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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
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gegeben!
    Ab diesem Zeitpunkt war ich wie hypnotisiert. Ich bewegte mich nicht mehr vom Fenster weg. Ich dachte über nichts nach. Kam auch nicht auf die Idee, das Radio oder den Fernseher einzuschalten, um zu erfahren, wie es anderswo zuging – oder wie Meteorologen die absonderlichen Ereignisse einschätzten. Ich hatte aufgehört zu rauchen, aufgehört Tee zu trinken und stierte unablässig in den Flockentanz, hinunter zur Straße und auf mein Thermometer. Das stand mittlerweile auf null Grad. Null Grad und Schnee im Juli – und Nachteinbruch am Nachmittag. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so Spektakuläres erlebt.
    Der Schneefall wurde heftiger. Eigentlich war es ein gewaltiges Schneetreiben von oben, von den Seiten und sogar von unten. Immer wieder stoben Myriaden von Schneeflocken aus der Häuserschlucht, in die ich von meinem Fenster aus blicken konnte, nach oben, kämpften gegen die aus dem Himmel herabrasenden Kristalle an, wirbelten dann durcheinander und verschwanden in Sekundenschnelle aus meinem Blickfeld in alle Richtungen. Tausende erstarben am Glas meiner Fensterscheibe. Die direkt über meiner Wohnung liegenden Dachpfannen waren hörbar in Bewegung und lieferten mit sphärischem Pfeifen und abgehackten Tönen die irreale Hintergrundmusik zu diesen merkwürdigen Geschehnissen.
    Gegen neunzehn Uhr jedoch kam schlagartig die Stille. So plötzlich wie der Orkan Stunden zuvor losgebrochen war, so plötzlich war er jetzt wieder verschwunden. Und zusehends beruhigte und ordnete sich das weiße Chaos. Der Schnee taumelte in großen Flocken dicht und friedlich zu Boden. Die abrupte Stille riss mich aus meiner Trance. Ich schaute zum Thermometer – auf minus fünf Grad war es gefallen.
    Jetzt geriet ich in Aufruhr. Ich öffnete das Fenster, atmete die eisige Winterluft, die noch wenige Stunden zuvor heiße Sommerluft gewesen war, und blickte hinunter auf die Straße. Kein Mensch war zu sehen, kein Auto fuhr. Am Nachmittag hatte mich dieser Umstand aufgrund des starken Unwetters nicht weiter verwundert.
    Jetzt aber schon. Ja, es schneite, und es war kalt. Alles jedoch hatte sich wieder beruhigt – und deshalb gab es keinen Grund mehr, in den Häusern zu bleiben. Auch die Schneehöhe auf der Straße, so schätzte ich es von oben ein, hätte ein Befahren durchaus noch zugelassen. Aber kein einziges Auto war unterwegs. Dafür parkten sonderbarerweise hier und da einige Wagen mitten auf der Fahrbahn. Auch die Seitenstraßen waren, so weit ich sie überblicken konnte, ohne jegliches Leben. Warum? Zum ersten Mal überkam mich an jenem Frühabend eine unbestimmte Angst. Was war los? Ich schloss das Fenster wieder, ging zum Radio und schaltete es ein. Aber welchen Sender ich auch wählte, es war nur ein monotones Rauschen zu hören. Und der Fernseher funktionierte ebenfalls nicht: Ich zappte durch die Programme und sah überall nur weißgraues Flimmern, der Ton war vollends ausgefallen.
    Hatten der Orkan, der starke Regen und schließlich der einsetzende Frost die Sendestationen lahmgelegt? Möglich wäre das gewesen. Aber wirklich überzeugt war ich von der Überlegung nicht. Es gab Notprogramme, Notstromversorgungen und so weiter. Von irgendeinem Sender hätte irgendetwas zu hören oder zu sehen sein müssen. Vielleicht aber war lediglich der Satellitenempfang vorübergehend gestört – und es lag gar nicht an den Rundfunkanstalten. Um das zu überprüfen, fiel mir mein kleines Transistorradio ein. Es war ein Weltempfänger, der mich seit Jahren schon auf allen Reisen begleitet hatte. Ich holte ihn aus dem Schrank, ging wieder zum Fenster, zog die Antenne weit heraus. Beim Einschalten des Gerätes bemerkte ich, wie meine Hand leicht zitterte. Zuerst kurbelte ich auf der UKW-Skala hin und her: nur Rauschen. Dann ging ich auf die Mittelwelle, rechts bis zum Anschlag, links bis zum Anschlag: Rauschen. Dasselbe auf der Langwelle – und auch auf der Kurzwelle.
     
    Was war los? Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich versuchte mich zu konzentrieren. Das Telefon. Na, klar! Daran hatte ich noch nicht gedacht. Ich griff den Hörer, wollte wählen – aber es gab kein Freizeichen. Die Leitung war tot. Auch mein Mobiltelefon, das ich hastig aus meiner Hosentasche zog, zeigte keinen Empfang an. Was war nur geschehen?
    Ich öffnete noch einmal das Fenster, an dem ich den ganzen Nachmittag gesessen hatte, aber die Straßen unten waren noch immer ohne Leben. Kein Mensch, kein fahrendes Auto – und überhaupt, das
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