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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
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Katastrophe gegeben haben, nun tot in ihren Betten liegen müssen. Und jene, die geflohen waren, lebten vielleicht einige von ihnen noch? Irgendwo? Warum hatte ich bisher nur einen einzigen Menschen gefunden? Ich war komplett verwirrt. Von einer düsteren Ahnung getrieben, ging ich zurück zum Treppenhaus und stieg nach unten, verließ die Klinik also noch nicht. In den Kellergeschossen irrte ich umher, aber nicht ziellos. Ich wollte eine ganz bestimmte Räumlichkeit finden, die ich einmal in einem Fernsehbeitrag über das Klinikum gesehen hatte – und zwar den Totensaal. Dort wurden die verstorbenen Patienten in Kühlboxen bis zu ihrem Abtransport in die Bestattungsinstitute zwischengelagert. Bald hatte ich den Raum gefunden. Mir war äußerst mulmig zumute, und in meinem Kopf lief eine Assoziationskette hin zu einem Kinofilm, der mich vor Jahren einmal das Gruseln gelehrt hatte. Er hieß Nightwatch und erzählte die Geschichte eines Studenten, der als Nachtwächter in einem pathologischen Institut jobbte.
    Ich stand in der Mitte des Raumes. Vor mir etwa zwanzig Boxen, eingelassen in die Wand, verschlossen mit glänzenden, quadratischen Stahlklappen, die mich an altmodische Kühlschranktüren erinnerten. Dort hinein wurde man also geschoben, wenn alles gelaufen war. Endstation Eisfach. Ich zitterte. Für langes Zögern fehlte mir eindeutig der Mut. Ich musste jetzt sehr schnell das tun, was ich mir vorgenommen hatte. Und so schritt ich beherzt zu den Boxen, hielt noch einmal kurz inne – und öffnete dann wahllos eine der Klappen. Nackte, weiße Füße ragten mir entgegen. Ich zog hektisch das Gestell mit der Bahre heraus – und erblickte eine tote alte Frau. Wie von Sinnen schob ich sie sofort wieder zurück, öffnete die nächste Box, sah erneut nackte Füße, sah diesmal einen toten jungen Mann, zog auch ihn heraus, so weit es ging, ließ dann jedoch schnell von ihm ab, ohne die Bahre wieder hineinzuschieben, öffnete Kühlschranktür um Kühlschranktür – und fand schließlich insgesamt vierzehn Leichen.
    Also hatte die Katastrophe den Toten nichts anhaben können. Also war der Verwahrloste bereits vor den unbegreiflichen Geschehnissen gestorben. Mit allen Lebendigen aber, ob gesund, krank, verletzt oder narkotisiert, hatte das Mysterium irgendetwas getan.
    Nur was? Mit allen Lebendigen …
    Mit allem Lebendigem?
    Mir blitzte die Kneipe neben meinem Wohnhaus durch den Kopf, die ich einige Stunden zuvor durchsucht hatte. Dort stand seit Jahren auf der Theke ein riesiger Käfig mit vielen zwitschernden, piepsenden und herumflatternden bunten kleinen Vögeln. Sie waren immer in Bewegung, sie waren nie still. Aber es war in der Kneipe vollkommen still gewesen, während meiner Inspektion dort am frühen Abend. Ich konnte mich an kein Geräusch erinnern. Hatten die kleinen Vögel stumm auf ihren Stangen gesessen? Waren sie überhaupt im Käfig gewesen? Da ich dem Vogelhaus keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, konnte ich mir die Fragen nicht beantworten. Diesmal gelang mir die Flucht aus der Klinik ohne Probleme. Es hatte angefangen, kräftiger zu schneien, und die eisige Luft schockte meine Lunge. Ich zog die Kapuze meines Schneeanzuges über den Kopf, orientierte mich kurz und ging dann zügig zurück in die Innenstadt. Und auch jetzt konnte ich keine einzige Spur im Schnee entdecken. Unberührt und wintermärchenschön lag die Stadt in der Dunkelheit. Inzwischen war es 1.30 Uhr.
    Wieder kam ich vorbei an vielen, mitten auf der Straße parkenden Autos, an beleuchteten Häusern und Geschäften, an menschenleeren Restaurants und Imbissbuden. Ich betrat jedoch kein einziges Gebäude. Ich wollte zur Zoohandlung Keller. Das war mein Ziel. Nach ungefähr zwanzig Minuten Schneemarsch stand ich vor dem Laden. Im Schaufenster brannte Licht, und sofort fiel mir auf, dass der große Meerschweinchenkäfig in der Mitte der Auslage leer war. Kein einziges Tierchen schnupperte oder wuselte darin umher. Noch nie hatte ich diesen Käfig leer gesehen. Er gehörte seit Jahren zur Attraktion des Schaufensters. Immer blieben Menschen davor stehen – und besonders auf Kinder übte das Meerschweinchenhaus mit seinen zahlreichen kleinen Bewohnern eine große Anziehungskraft aus. Ich betrat den Laden. Und schon im ersten Moment fühlte ich mich in meinen Ahnungen bestätigt – weil Stille in dem Verkaufsraum herrschte. Normalerweise schlug dem eintretenden Kunden, neben schlechter Luft, ein lautstarkes Gewirr aus Piepsen,
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