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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
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nach wie vor, die Temperatur liegt bei neunundzwanzig Grad, jede Spur von Schnee und Nässe ist verschwunden. Die Luft riecht beinahe nach Frühling, aber soweit ich es von meiner Wohnung aus beurteilen kann, sprießen nirgendwo Knospen oder Triebe. Die Bäume stehen ohne jegliches Grün in der warmen Sonne. Vielleicht braucht es ja eine bestimmte Zeit, bis die Pflanzenwelt nach so langer Dunkelheit und so großer Kälte wieder zum Leben findet.
    Vielleicht geht es mir wie den Pflanzen.
    Auch ich benötige Zeit.
    Erst gestern ist es mir gelungen, ein wenig klar zu denken. Bis dahin befand ich mich ja eigentlich in einem Schockzustand. Was auch nicht verwunderlich ist. Schließlich hatte ich mit überhaupt keiner Veränderung mehr gerechnet – war kurz davor, in den Tod hineinzuschlafen. Und dann das! Sonne! Wärme! Farben!
    Auch meine Erinnerungen sind plötzlich wieder ganz klar in meinem Bewusstsein. Und so viele!
    Ich denke an meine Kindheit, meine Jugend, denke an die Eltern und meine Schulfreunde; sehe Marie lachen, sehe ihren weißen Sarg, spüre die bittere und alles bestimmende Einsamkeit nach ihrem Tod; weiß, dass ich damals fast nie Gegenwart habe entstehen lassen, um mich weiter mit der Vergangenheit beschäftigen zu können; habe den 17. Juli des letzten Jahres vor Augen, fühle die monströse Verlorenheit, in die ich geraten war; sehe mich auf der Wanderung zu Maries Grab; spüre die fast tödliche Angst, als Finn in der Scheune auf mir kniete, aber auch das unfassbare Glück, als er sich als Mensch zu erkennen gab – ja, und überhaupt Finn. Alles, was wir erlebt haben, zieht durch meinen Kopf, so viel Nähe, so viel Schönes, so viel Gutes, so viel Liebe – und dann der Schmerz und die hoffnungslose Ohnmacht nach seinem Verschwinden.
    Heute wundere ich mich darüber, dass mein Herz nicht einfach zu schlagen aufhörte, als mir klar wurde, er würde niemals mehr wiederkommen. Ja, darüber wundere ich mich.
    Und jetzt? Wie denke ich momentan über Finn?
    Es ist merkwürdig: Obwohl sein Ende noch gar nicht so lange zurückliegt, bin ich keineswegs verzweifelt. Die Dankbarkeit, ihn getroffen zu haben, ist größer als die Trauer über seinen Verlust. Wie sonderbar. Solche Empfindungen waren mir früher völlig fremd.
    Früher.
    Während ich hier schreibe und an all das denke, verspüre ich einen starken Widerwillen gegen dieses Früher. Ich kann mich nicht dagegen wehren, und will es auch nicht. Es ist ein mächtiges Gefühl. Woher kommt es? Warum entsteht es?
    Ich habe keine Ahnung.
    Aber wenn ich die Zeichen meines Herzens richtig deute, wenn ich tief in seine geheimen Verzweigungen hineinhorche, dann muss ich sagen: Ich bin der Vergangenheit so müde.
    Ja, das ist es!
    Ich möchte mich nicht mehr erinnern. Erinnerungen fressen das Leben. Erinnerungen ziehen in den Tod. Genug Tod liegt hinter mir.
    Auch der Worte bin ich so müde. Ich möchte mir keine Gedanken mehr machen. Nicht fragen. Nicht grübeln. Nicht hoffen.
    Eine wunderbare Vorstellung!
     
    Und ich will mich nicht mehr treiben lassen. Es ist schlimm, sich treiben zu lassen.
    Vielleicht hat alles, was hinter mir liegt, einen Sinn – und ich muss jetzt nur noch die Konsequenzen daraus ziehen. Aber – welche wären das? Und habe ich die Kraft dazu? Den Mut? Eines aber ist mir klar: Ich muss Ernst machen! Mit mir selbst. Und zwar bald. Ich gebe mir noch zwei Tage. Dann werde ich eine Entscheidung treffen.

63. EINTRAG
    Es ist früher Morgen. Die ganze Nacht über habe ich in meinen Aufzeichnungen hier gelesen. Und noch einmal zog mein Leben an mir vorbei. Nun lege ich die Vergangenheit auf ein Floß und der Fluss Zeit soll es mitnehmen, wohin er mag. Forttreiben soll das Floß. Vielleicht strandet es irgendwo. Vielleicht endet es aber auch irgendwann im großen Meer der Ewigkeit. Mir ist es jetzt egal. Ich fühle mich frei. Zum ersten Mal in meinem Leben.
    Vollkommen frei.
    » Man kann immer wieder neu beginnen!« , sagte mein Freund Finn vor Monaten zu mir. Und er hatte recht damit.
    Ich werde nun neu beginnen!
    Ich werde gen Süden ziehen. Noch heute. Der Sonne entgegen. Dazu habe ich mich entschieden.
    Ich will hinaus. Will endlich mein Haus, meine Wohnung verlassen. Für immer. Vielleicht sehe ich nun die Welt, nach allem was hinter mir liegt, mit ganz anderen Augen. Und die neu erwachte Sonne soll mir den Weg weisen.
    Vielleicht finde ich Leben. Vielleicht finde ich andere Menschen. Vielleicht auch nicht.
     
    Meine Aufzeichnungen will
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