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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
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kam er nicht zurück. War ich tatsächlich auch in der Apotheke? In allen Räumen dort? Und habe jeden Winkel durchsucht? Oder war es eine Fieberfantasie? Ich höre noch mein Rufen nach ihm. Hat er wirklich nicht geantwortet? Und seine Spuren? Die endeten tatsächlich hinter dem Ladentisch? Was ist dort geschehen? Oder hatte ich wieder einen Alptraum? …
    Ich bin ganz durcheinander. Das Erinnern funktioniert nicht richtig. Mein Fieber von vorgestern – oder wie lange auch immer es her sein mag – hat einen Schleier über die Geschehnisse gelegt.
     
    Fünf Minuten später.
    Es ist sicher: Ich war draußen gewesen! Mein Schneeanzug, die Schuhe, die Mütze und die Handschuhe liegen wild durcheinander im Flur auf dem Boden. Alles befindet sich sonst geordnet im Schrank. Die Schuhe allerdings sind nicht mehr nass; ein Indiz dafür, dass mein Ausflug längere Zeit zurückliegt.
    Und Finn ist weg.
    Ich muss wieder nach draußen! Ich muss ihn suchen! Sofort! Ich werde mich jetzt anziehen und dann unverzüglich losgehen. Ich darf keine Zeit verlieren.
    Er kann doch nicht einfach so verschwunden sein. Vielleicht habe ich ihn während meines Herumirrens im Fieber übersehen, vielleicht braucht er ganz dringend meine Hilfe. Aber es ist so viel Zeit verstrichen. Wenn er irgendwo eingeschlossen sein sollte – wie lange hält man es in einem ungeheizten Raum aus?
    Ach, ich weiß es nicht.

49. EINTRAG
    Zwölf Tage später.
    Er ist weg. Ich habe keine Hoffnung mehr, ihn zu finden. Nach meinem letzten Eintrag war ich drei Tage und drei Nächte auf der Suche. Vergeblich. Danach habe ich mich bis vorgestern fast zu Tode gesoffen.
     
    Er ist verschwunden. Zuletzt stand er hinter dem Ladentisch der Apotheke. Davon bin ich überzeugt. Es gibt definitiv keine weiteren Spuren. Alles, was ich während meiner Fiebersuche registriert hatte, stimmt. Er ist also verschwunden, so wie all die anderen Menschen voriges Jahr auch verschwunden sind. Einfach so. Ich bin mir sicher.
    Warum habe ich eigentlich in den vergangenen Monaten geglaubt, dass mit den Ereignissen des 17. Juli das Menschenverschwinden abgeschlossen sei? Auch Finn war davon ausgegangen. Besser gesagt: Es schien uns selbstverständlich. Über alles Mögliche haben wir spekuliert – nie aber über die Eventualität, selbst auch noch zu verschwinden, spurlos aus dem Leben genommen zu werden.
    Ob er es gespürt hat? Ob er Schmerzen hatte? Oder Angst? Und ich war nicht bei ihm.
    Das Mysterium ist also nicht vorbei. Es hält an. Es ist hier.

50. EINTRAG
    Ich schlucke Psychopharmaka. Ich war noch einmal draußen, um mir die Tabletten zu besorgen. Ich könnte sonst nicht weiterleben. Die Medikamente bringen mich zur Ruhe, ohne mir den klaren Geist zu rauben. Und sie lassen mich nachts schlafen.
     
    Die Tage vergehen alle gleich. Ich stehe auf, kümmere mich um den Ofen, wasche mich, esse etwas, und dann sitze ich in meinem Sessel. Stunden um Stunden. Ohne viel dabei zu denken.
    Was sollte ich auch denken? Alles, was zu denken möglich ist, habe ich gedacht.
     
    Wo ist Finn? Tief in meinem Herzen! Ich habe tatsächlich einen Mann geliebt. Ich, der sich so etwas früher niemals hätte vorstellen können. Und ich glaube, dass auch er mich geliebt hat. Es war eine große, reine Liebe. Das kann ich mit gutem Gewissen sagen. Ich hatte also das Glück, nach Marie noch einmal lieben zu dürfen – und geliebt zu werden. Welch ein Geschenk.
    Und ich habe mir nichts vorzuwerfen. Diesmal nicht. Das ist gut. Es plagen mich keine Schuldgefühle. Ich habe mich Finn gegenüber stets korrekt verhalten, ich habe keine Fehler gemacht.
    Aber nun ist er weg. Ich bin wieder ganz alleine. Hoffentlich war sein Ende nicht qualvoll. Ich bin froh, dass ich es bin, der verlassen wurde. So sind ihm Schmerzen erspart geblieben, für die es keine Worte gibt.
    Ich trage jeden Tag seine Hose und seinen Pullover. Dadurch fühle ich mich ihm noch näher. Am Abend spreche ich immer mit ihm, kurz vor dem Zubettgehen. Erzähle ihm von meinem ereignislosen Tag, erzähle ihm von früher. In meinem Bett liegt noch immer sein großes Kopfkissen. Wenn ich mich auf die Seite drehe, drücke ich es mir an den Rücken; ein bisschen kommt es mir dann so vor, als sei er bei mir.

51. EINTRAG
    Ich weiß nicht mehr, welcher Tag heute ist. Freitag? Dienstag? Sonntag? Durch meinen langen Schlaf neulich ist alles durcheinandergeraten. Folglich kann ich den Tagen auch kein Datum mehr zuordnen. Ich vermute, dass es mittlerweile Mai
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