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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
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Ich versuchte erneut, einen Radio- oder Fernsehsender zu finden, versuchte erneut zu telefonieren. Aber wie schon eine knappe Stunde zuvor: nichts. Ich schaltete meinen Computer ein. Und natürlich, das war zu erwarten, es kam auch keine Internetverbindung zustande. Wie so oft in meinem Leben wurde ich, obwohl einer äußerst heiklen Situation ausgesetzt, ganz ruhig. Ich kannte diesen Mechanismus meines Gehirns aus besonderen Stress- oder Prüfungssituationen. Zunächst meinte ich dann immer durchzudrehen, die Anspannung, die Aufregung, nicht aushalten zu können – aber plötzlich, als wäre ich in das Auge eines Zyklons geraten, empfand ich eine beinahe gespenstische Ruhe und überlegte konzentriert, was zu tun, was zu lassen sei. So war es auch diesmal. Ich starrte eine Weile vor mich hin und ging dann in mein Schlafzimmer. Im Kleiderschrank suchte ich nach allen Wintersachen, die ich besaß, und kramte sie aus den hinteren Ecken und Nischen heraus. Da ich mit Marie mehrere Schneereisen gemacht hatte – zweimal Kanada, dreimal Alpen -, war ich gut ausgerüstet mit effektiver Winterkleidung. Ich zog mich um. Lange Unterhose, Rollkragenpullover, Goretex-Schneeanzug, polartaugliche Schuhe und so weiter. Warm verpackt, verließ ich nach einer Viertelstunde erneut meine Wohnung. Ich war fest entschlossen, in der Stadt herumzustreifen, so lange zu suchen, bis ich endlich auf jemanden stoßen würde. Irgendwo mussten doch Menschen sein – oder zumindest ein Hinweis, der mich zu ihnen führen könnte.
    Die Fußspuren, die ich bei meinem ersten Ausflug auf der Straße hinterlassen hatte, waren fast schon wieder zugeschneit. Ich ging nach rechts, in Richtung Innenstadt, und mir fiel auf, dass zunehmend mehr Autos mitten auf den Straßen standen. Alle aber waren leer und unverschlossen – und in jedem Zündschloss steckte der Schlüssel, allerdings zurückgedreht, die Motoren liefen nicht. Ich beschleunigte meinen Gang. Sah wieder überall hellerleuchtete Fenster. Klingelte ab und zu an den Türen, niemand reagierte, ich schaute in Erdgeschosswohnungen, sah keine Bewohner, und dann kam ich zu einem großen Supermarkt, in dem ich schon seit Jahren einkaufte. Die elektrische Schiebetür öffnete sich, ich ging hinein. Ein Schauder überkam mich. Die riesige Ladenfläche, so weit ich sie überblicken konnte, war menschenleer! Kein einziger Kunde, kein Personal, nichts. Nur leere, halb volle und komplett gefüllte Einkaufswagen standen in den Gängen oder in Schlangen vor den Kassen. Ich lief kreuz und quer durch die Regalreihen – und dann wieder raus auf die Straße.
    Gegenüber befand sich eine Sparkasse. Obwohl es mittlerweile schon 20.00 Uhr war, hatte man die Tür noch nicht abgeschlossen, und so betrat ich den großen Schalterraum. Überall brannte Licht – aber: kein Mensch, nirgendwo. Und auch dort sah es so aus, als hätten alle ehemals Anwesenden den Raum innerhalb von Sekunden verlassen – oder verlassen müssen. Denn nichts war geordnet, eingeräumt oder verschlossen. Ich ging umher und hätte mir ganz einfach Geld in jeder Menge nehmen können, stattdessen suchte ich schnell das Weite, weil mir auch dieser Ort, genau wie zuvor der Supermarkt, äußerst unheimlich erschien. Und so ging es weiter. Ich rannte von Geschäft zu Geschäft, von Restaurant zu Restaurant, inspizierte Kaufhäuser, Sonnenstudios, Fahrradwerkstätten, Schneidereien, Tankstellen, Blumengeschäfte, Copyshops, Buchhandlungen, Apotheken. Nirgendwo jedoch war ein Mensch. In einigen Geschäften lief Musik, was meine Hoffnung zunächst nährte, jemanden anzutreffen. Aber es waren nur CDs, die sich endlos wiederholten. Von den Menschenhänden, die sie irgendwann eingelegt hatten, fehlte jede Spur. Stunde um Stunde ging und rannte ich durch die stille Stadt. Es schneite unaufhörlich große schöne Flocken, und ein riesiges, an einer Hauswand prangendes Thermometer stand auf minus zehn Grad.
    Gegen Mitternacht betrat ich die Universitätsklinik. Hatte ich bisher keine Menschen gefunden, hier müsste ich erfolgreich sein, redete ich mir ein. Aber schon im großräumigen Empfangsbereich, wo eigentlich zu jeder Tages- und Nachtzeit Betriebsamkeit herrschte, war niemand anzutreffen. Ich begann, das Gebäude zu inspizieren. In keinem Zimmer lag ein Kranker, die Krankenlager jedoch waren in einem merkwürdigen Zustand. Im ersten Moment wirkten sie wie belegt. Beutel mit Infusionslösungen baumelten über vielen Betten, die Decken waren nicht
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