Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
Vom Netzwerk:
fiel mir erst jetzt auf, die Stadt schien eingehüllt in eine fremdartige Stille. Sonst war immer irgendetwas zu hören: Autos, Hupen, Straßenbahnen, Baulärm, polternde Güterzüge in der Ferne, Kirchenglocken und so weiter. Die Kulissengeräusche einer Großstadt eben. Jetzt aber herrschte absolute Ruhe.
    Ich knallte mein Fenster zu und hatte plötzlich das starke Bedürfnis, mit jemandem über die Vorkommnisse zu reden, zu spekulieren, zu beraten … und klingelte bei meinem Nachbarn Alexander Kur, einem sehr freundlichen und erfolglosen Schriftsteller, der eigentlich immer zu Hause war. Ich klingelte Sturm. Nichts aber tat sich. Ich drückte ein weiteres Mal lange auf den Knopf. Ohne Erfolg. Offensichtlich war er genau an diesem Abend unterwegs. Ich stieg die Treppe hinunter zur unter mir liegenden Etage. Rechts wohnte ein junges Paar, Anna und Thomas, links eine alleinerziehende Mutter, Elke, und ihr kleiner Max.
    Zunächst versuchte ich es bei Elke. Läutete mehrfach und ausdauernd. Aber auch sie war nicht zu Hause. Das machte mich sehr stutzig, da sie sich am frühen Abend immer um Max kümmerte und so gut wie nie um diese Zeit ausging. Also versuchte ich es bei Anna und Thomas. Ebenfalls vergebens.
    Daraufhin ging ich noch ein Stockwerk tiefer. Und als sich auch dort in beiden Wohnungen nichts rührte, geriet ich in Panik. Denn zu beiden Seiten wohnten alte Frauen, die am Abend immer zu Hause waren. Ich raste durch den Rest des Treppenhauses, klopfte und klingelte überall, rief laut, und es hallte durch alle Stockwerke: »Ist denn überhaupt niemand im Haus? Hallo! Das gibt’s doch gar nicht! Hört mich denn keiner? Hallo!« Aber nichts tat sich. Ich war offenbar ganz alleine in diesem von zehn Parteien bewohnten Mietshaus. Das Licht im Flur erlosch. Vorsichtig tastete ich mich an der Wand entlang, fand den Schalter, drückte – und es wurde wieder hell. Gott sei Dank war der Strom nicht ausgefallen. So stand ich starr in der zweiten Etage, hielt mich am Treppengeländer fest, hörte nichts, wagte dann einige Blicke nach oben und unten – und mir wurde unheimlich zumute, wie ich es überhaupt nicht kannte. Was war nur los?
    Ich musste raus auf die Straße! Ja! In die Kneipe im Nebenhaus – oder zum Imbiss schräg gegenüber! Vielleicht wusste man dort mehr. Vielleicht hatten alle Hausbewohner genau dieselbe Idee schon vor Stunden gehabt – und deshalb war niemand mehr in seiner Wohnung. Diese Überlegung erleichterte mich etwas, beflügelte mich sogar. Mit großen Sätzen stürzte ich nach unten, öffnete die Haustür – und eiskalte Luft und Schneeflocken schlugen mir ins Gesicht. Wieder gewahrte ich diese eigenartige Stille. Ich spähte in alle Richtungen, aber von Menschen keine Spur. Allerdings brannte in der Kneipe nebenan Licht, ebenso beim Imbiss gegenüber. Was mich spürbar beruhigte. Ich trat in den Schnee, versank mit meinen Sommerschuhen tief darin – und watete nach rechts zur Eingangstür der Kneipe. Ich war regelrecht begierig darauf, nun endlich mit anderen Menschen über die Wetterkatastrophe und deren Auswirkungen sprechen zu können.
    Aus dem Inneren der Kneipe hörte ich nichts. Was mich wunderte, da sonst immer, auch bei geschlossener Tür, Musik und Stimmen nach draußen auf die Straße drangen. Aber ich dachte nicht lange darüber nach. Ich fror fürchterlich, weil ich ja nur mit einem T-Shirt und einer leichten Sommerhose bekleidet war, und wollte so schnell wie möglich in die hoffentlich etwas wärmere Wirtsstube. Ich griff zur Klinke und öffnete die Tür. Und ein Fallbeil durchschnitt meinen Magen. Denn kein einziger Mensch befand sich in der Kneipe. Ich rief in den Raum, suchte hinter der Theke, in der Küche, im Lagerraum: nichts. Jedoch standen vereinzelt angetrunkene Biergläser herum, ebenso einige Teller mit kaum verzehrten Speisen. Daneben lagen Brillen, volle oder halb volle Zigarettenschachteln, und sogar ein Schlüsselbund fiel mir ins Auge. Hatten die Gäste den Raum fluchtartig verlassen? Fast schien es so. Aber warum?
    Mein Herz pochte heftig, und schnell kehrte ich der Kneipe wieder den Rücken. Ich ging hinaus in die Kälte, machte ein paar Sprünge durch den Schnee und stand vor dem Imbiss. Eine engmaschige Gardine verhinderte den Blick ins Innere des Ladens. Ich riss die Tür auf, blieb im Türrahmen stehen, vergaß kurzfristig zu atmen, glotzte in jede Ecke des Raumes: Und auch hier war kein Mensch! Niemand! Das Frittierfett brutzelte vor sich hin, einige
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher