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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
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welches geben würde. Diese Vorstellung und das damit verbundene Gefühl ließ ein solches Entsetzen in mir ausbrechen, dass ich mich herumwarf und wie ein Verrückter zu meinem Auto zurückrannte, um dann so schnell wie möglich wieder in die Stadt zu fahren, in meine Wohnung zu kommen.
    Nach diesem Vorfall habe ich die Stadt nicht mehr verlassen. Was, aufgrund der zunehmenden Schneehöhe, sowieso bald unmöglich gewesen wäre.
    Ich trieb mich also nur noch in der Stadt herum. Und bis heute sieht es aus, als wäre Leben in den Häusern, in den Straßen. Denn immer noch brennen Lampen in Wohnungen, Geschäften und Bürotürmen. Aber es werden auffallend weniger. Vermutlich, weil allmählich Teile des Stromnetzes zusammenbrechen. Ich wundere mich ohnehin, dass überhaupt noch Strom fließt, auch in meiner Wohnung. Wie ist das möglich ohne menschliche Kontrolle, ohne menschliches Dazutun? Meine Heizung funktioniert allerdings schon seit zwei Wochen nicht mehr. Und so war ich viele Tage (ich nenne der Einfachheit halber die Zeit, die ich im wachen Zustand verbringe, Tag) ausschließlich damit beschäftigt, Holz, Briketts und Eierkohlen in mein Haus zu schleppen. Ich habe mir alles zusammengesucht. Das Holz aus Baumärkten und von Tankstellen, wo es früher abgepackt verkauft wurde; Kohlen und Briketts aus diversen Kellern heruntergekommener Altbauten und vom Hof eines Ölhändlers, der offensichtlich in kleinem Umfang auch mit Kohlen gehandelt hatte. Ich besitze nämlich einen antiquierten, aber durchaus funktionstüchtigen Kohleofen, der lange ungenutzt und schön in einer Ecke meines Wohnzimmers gestanden hat und mir jetzt seiner Bestimmung gemäß sehr gute Dienste leistet. Er heizt so kolossal, dass die Temperatur in meinem Wohnzimmer, trotz schlecht isolierter Außenwände, manchmal fast dreißig Grad beträgt. Mir gefällt das gut. Die Wärme vermittelt mir eine gewisse Geborgenheit. Auch jetzt in diesem Moment ist es hier sehr warm, und ich höre das Knistern des verbrennenden Holzes. Im Übrigen macht mir das Feuer Freude. Das Feuer ist wie ein kleines Leben. Ich beobachte es gerne bei geöffneter Ofentür. Wie es stürmisch und unberechenbar goldglühend nach der Luft züngelt.
    Drei Wohnungen in meinem Haus habe ich aufgebrochen. Um sie als Lagerstätte für meine Vorräte zu nutzen. Die beiden unter mir, also die von Anna und Thomas und die von Elke – und ebenso die Wohnung meines direkten Nachbarn Alexander Kur. Die Anna-Thomas-Wohnung dient mir ausschließlich als Heizmateriallager. In jedem der drei Zimmer stapeln sich Holzscheite und Briketts, und es stehen Eimer herum, randvoll gefüllt mit Kohlen. In der Elke-Wohnung habe ich Zigaretten, Decken, Kerzen, Petroleum untergebracht, diverse Utensilien aus Outdoor-Läden, wie Kocher, Schlafsäcke, Winterbekleidung, Tiefschneeschuhe, Taschenlampen – und Bücher. Tausend Bücher und mehr lagern nun dort; Romane der Welt- und Unterhaltungsliteratur, Gesamtausgaben der ganz Großen (Schiller, Goethe, Shakespeare, Cervantes, Dante, Dostojewski, Hemingway, Tolstoi), Sach-, Geschichts- und Märchenbücher, wissenschaftliche Werke, Lyrik, Biografien, Kunstbände, Hörbücher. Ich habe sie aus der nächstgelegenen Buchhandlung hierhergeholt und so gestapelt, dass ich gut an jedes Buch herankomme. Das Lesen saugt mich ins Leben, obwohl es offenbar kein Leben mehr gibt. Und es raubt mir auf wunderbare Weise die Zeit, die ich sonst nicht in den Griff bekäme.
    Das Zuhause meines ehemaligen Nachbarn Alexander Kur ist jetzt eine riesige Speisekammer. Was habe ich in der letzten Zeit nicht alles nach oben getragen: Konserven aller Art, Zucker, Mehl, Öl, Gewürze, Kaffee, Tee, H-Milch, Müsli, Trockenfrüchte, Gebäck, Würste, Schinken, Käse, Fisch, Tiefkühlkost in großen Mengen, die ich auf Alexanders Terrasse lagere, Schokolade, gut verpacktes und haltbares Brot, Getränke aller Art (auch Alkoholisches), getrocknete Erbsen, Bohnen und Linsen, Margarine, Schmalz, Zwiebeln, Kartoffeln, Möhren, Äpfel. Im Treppenhaus, auf dem Plateau zwischen unseren Wohnungen, stapeln sich Dinge des täglichen Bedarfs aus dem Drogerie-Markt, wie Zahncreme, Zahnbürsten, Seife, Hautfette, Waschpulver, Batterien. Und auch ein Vorrat an Medikamenten. Aus der nächstgelegenen Apotheke habe ich mitgenommen, was mir in die Hände fiel, vom Grippemittel bis zum Morphin.
    Ich will für alles gewappnet sein.
    Ich weiß nicht, wie lange ich überhaupt noch das Haus verlassen kann.
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