Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
Vom Netzwerk:
gesehen, aber als sie an diesem Abend plötzlich in Maries Wohnzimmer auftrat, ich war gerade im Gespräch mit Jan, glaubte ich, eine völlig fremde Frau vor Augen zu haben. Sie trug ein extrem enges und kurzes schwarzes Kleid, lachte uns alle an wie ein Filmstar, war perfekt geschminkt, und ihre Beine schienen endlos.
    Die Weihnachtsparty begann in ausgelassener Stimmung. Und wie bestellt fing es am frühen Abend wieder zu schneien an. Alles in allem also eine perfekte Inszenierung. Etwa um 22.00 Uhr hatten wir unser opulentes Mahl beendet, tranken Kaffee und Cognac und rauchten. Bis Marie aufstand, die CD mit den gregorianischen Gesängen einlegte, noch ein paar neue Kerzen anzündete und zur Bescherung rief. Sämtliche Geschenke lagen auf dem Boden vor unserem Weihnachtsbaum. Schon am Nachmittag hatten alle ihre Päckchen dort abgelegt. Es war ein beachtliches Häuflein entstanden, denn jeder sollte jeden beschenken, so wollte es Marie. Also hockten wir uns vor den Baum, mit großen Kinderaugen, und begannen zu suchen. Jedes Päckchen hatte nämlich einen Aufkleber mit Absender und Empfänger: von Jan für Marko, von Nina für Lorenz, von Lorenz für Nina, von Alicia für Marie – und so weiter.
    Schon Wochen vor Weihnachten hatte ich dies und das besorgt, was recht mühselig war. Aber es ist wohl immer schwierig, relativ fremde Menschen zu beschenken. Ich kaufte CDs, Taschenbücher, ein Computerspiel, einen gusseisernen Kerzenständer, Parfüm, ein Poster, Kinokarten.
    Mit tiefer Freude hatte ich mich daran gemacht, mir ein Geschenk für Marie auszudenken. Es sollte etwas ganz Besonderes sein, etwas Einzigartiges und sehr Persönliches. Ich überlegte und überlegte. Verwarf viele Ideen wieder, brütete etwas Neues aus, was mir dann aber auch nicht gefiel. Und so ging es lange. Bis ich den zündenden Einfall hatte. Genau das war es! Sensationell! Ich hatte überhaupt keine Zweifel, dass ich genau ins Schwarze treffen würde. Und zwar mit einem Ring! Aber nicht mit irgendeinem. Nicht mit einem, den man in einem Geschäft kaufen konnte!
    Nein, ich wollte ihn eigens für Marie entwerfen. Ein Unikat sollte es werden mit unverwechselbarem Akzent, sozusagen einem Lorenz-Zitat. Und die Details waren mir schnell klar.
    Jahre zuvor hatte ich im Sommer eine lange Skandinavien-Reise gemacht. Im nördlichen Finnland war ich während einer Wanderung an einem kleinen Amethyst-Bergwerk vorbeigekommen, welches man besichtigen konnte. Das tat ich natürlich und wurde regelrecht verzaubert von den schönen dunklen Halbedelsteinen. Da Amethyste nicht sehr wertvoll sind, war es den Besuchern erlaubt, in einem abgesteckten Bereich selbst nach den begehrten Steinchen zu graben. Also machte auch ich mich voller Hoffnung ans Werk. Und tatsächlich, ich konnte es kaum glauben, nach einer halben Stunde hatte ich einen etwa mozartkugelgroßen Amethyst-Brocken gefunden. Es war ein so prächtiger, dunkellila schimmernder Stein, dass er zu meinem liebsten Andenken jener Nordeuropa-Reise wurde. Seither lag er gut sichtbar auf meinem Bücherregal, genau vor Thomas Manns Zauberberg . Was ein Zufall war und keinen besonderen Hintergrund hatte.
    Mit diesem für mich so wertvollen Stein ging ich zu einem Goldschmied und unterbreitete ihm meine Idee, verschieden große Amethyst-Splitter, abgeschlagen von meinem Stein, in einen breiten und gehämmerten Silberring einzuarbeiten.
    Eine Woche später hielt ich einen Traum-Ring in Händen, mein Weihnachtsgeschenk für meine Marie. Verpackt hatte ich ihn in eine unscheinbare braune Pappschachtel. Ohne Schleife, Weihnachtssternchen oder Ähnliches. Aufschrift: von Lorenz für Marie.
    Zwei Tränen rannen über ihre Wangen, eine rechts, die andere links, als sie nach aufgeregtem Öffnen der Schachtel den Ring stolz in die Luft hielt, ihn von allen Seiten begutachtete und schließlich auf den rechten Ringfinger streifte. »Sind das Amethyst-Splitter?«, fragte sie mich, zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ja, natürlich sind das welche.« Sie schaute mich an. »Von deinem Finnlandstein?« Ich lächelte, nickte nur, und sie gab mir einen Kuss. »Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe«, flüsterte sie mir ins Ohr. Sie wusste, wie wertvoll mir dieser Stein war, und ich wusste, wie gut er ihr immer gefallen hatte.
    Dann war ich an der Reihe: von Marie für Lorenz. Vor mir stand ein riesiger, weihnachtlich dekorierter Karton. Schenkt sie mir einen Fernseher, dachte ich, oder einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher