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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
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Irgendwann wird der Schnee vielleicht so hoch liegen, dass kein Schritt mehr möglich ist. Ja, ich hätte auch woanders hingehen können, in eine sicherere Behausung, eine geschütztere, eine wärmere, zum Beispiel in einen Atomschutzbunker. Vor Jahren habe ich einmal den größten der Stadt fotografiert. Ich weiß, wo er sich befindet, wüsste auch, wie ich hineinkäme. Sogar Lebensmittelvorräte in Mengen gibt es dort, auch Wasser und Medikamente. Aber ich will nicht in den Bunker. Hier ist mein Zuhause. Sollte es keine Rettung, keine Veränderung geben, so will ich hier sterben, in meiner Wohnung, inmitten der Dinge, die ich mag und die mir vertraut sind.
     
    Meine Vorräte habe ich anfangs mit einem Lastwagen, einem starken Baufahrzeug, hierher transportiert. Seit einer Woche aber geht das nicht mehr. Zu hoch ist der Schnee inzwischen. Und so bin ich zu Fuß mit einem großen Rucksack und Reisetaschen losgezogen, immer nahe an den Häuserwänden entlang, dort, wo etwas weniger Schnee liegt. Auf die Weise habe ich bis vorgestern herangeschafft, was ich finden konnte. Jetzt aber ist es genug. So lange, wie meine Vorräte reichen würden, möchte ich gar nicht leben.
    Aber vielleicht werde ich sie gar nicht lange benötigen. Vielleicht wendet sich das Blatt bald, und es geschieht ein weiteres Mal etwas Unbegreifliches.
    Vielleicht gibt es ja doch noch Menschen …

3. EINTRAG
    Die Gedanken an Marie werden immer stärker. Sie sind so intensiv wie noch nie seit ihrem Tod. Und immer, wenn ich zur Ruhe komme, auch wenn ich lese, flutet die Vergangenheit mein Herz. Ich kann mich dessen nicht erwehren. Ich will es auch nicht.
    Die Jahre mit Marie waren die schönsten Jahre meines Lebens.
     
    Seit drei Tagen habe ich meine Wohnung nicht mehr verlassen. Warum sollte ich auch? Es wird immer beschwerlicher. Es kostet immer mehr Kraft. Zudem gibt es nichts Neues zu entdecken. Glaube ich zumindest. Fast sämtliche Winkel der Stadt habe ich durchstöbert. Und ich bin ausgerüstet mit allem, was ich brauche. So halte ich mich hier in meiner Wohnung auf, gehe umher, schaue ab und an aus dem Fenster, lese, esse, schlafe, heize und bin froh, dass noch immer Strom fließt und das Wasser nicht eingefroren ist.
    Die Uhr steht im Moment auf kurz vor drei. Eigentlich wäre es jetzt Nachmittag. Und dann würde unter normalen Umständen vermutlich die Sonne scheinen, bei hohen Sommertemperaturen. Aber es ist finster draußen, und so heftig wie heute hat es seit zwei Wochen nicht mehr geschneit. Nur als Schemen kann ich die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite wahrnehmen.
    Marie.
     
    Fünf Jahre lang haben wir unsere Leben miteinander verwoben. Sie war mein Engel. Das aber weiß ich erst, seitdem sie nicht mehr da ist.
    Als wir unser erstes Weihnachtsfest miteinander verbrachten, waren wir gerade mal ein Vierteljahr zusammen. Es war damals fast so kalt und winterlich wie heute, es lag nur weniger Schnee, und schon am 19. Dezember fuhr ich zu ihr. Mit dem Zug. Sie wohnte bis zuletzt in einer Kleinstadt, etwa hundert Kilometer von hier entfernt. Die Jahre davor hatte ich Weihnachten immer alleine verlebt, meist zu Hause vor dem Fernseher oder lesend, und das ohne Melancholie oder Traurigkeit. Das große Kitsch- und Christfest interessierte mich nicht mehr. Zwar verband ich besonders mit dem Heiligen Abend wehmütige Erinnerungen an ferne Tage, aber seit dem Tod meiner Eltern vor fünfzehn Jahren – beide waren kurz hintereinander gestorben – hatte sich die Kindheit vollends von mir verabschiedet, und ich konnte der Stille-Nacht-Heilige-Nacht-Romantik nichts mehr abgewinnen. Nun aber war Marie in mein Leben getreten, und sie liebte das Fest der Feste, obwohl auch sie es nicht ganz ernst nahm, und so machte es mir Spaß, mich mit ihr darauf zu freuen und diverse Vorbereitungen zu treffen. Wir hatten geplant, den Heiligen Abend zusammen mit ein paar Freunden in ihrer Wohnung zu feiern. Also kauften wir zunächst ein, in großen Mengen, alles, was für eine pompöse Weihnachtsshow vonnöten war: Bier, Sekt, Wein, Sherry und Cognac, Rehrücken, Lachs, Gemüse, Salate, Käse, exotische Früchte, verschiedene Brotsorten, Weihnachtskuchen, Gebäck, Pralinen, Eis. Dazu eine schöne große Tanne, eine CD mit gregorianischen Gesängen und neues Dekorationsmaterial, obwohl in Maries Keller schon drei Riesenkartons mit Kugeln, Schleifen, Lametta, Figuren, Kerzenhaltern, Lichterketten und so weiter herumstanden. Ehrlich gesagt, war mir
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