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Der sueße Kuss der Luege

Der sueße Kuss der Luege

Titel: Der sueße Kuss der Luege
Autoren: Beatrix Gurian
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sein.
    Und heute, das wusste er gleich, als er aufwachte, heute war der Tag, an dem Stefanie erlöst werden würde.
    Seine Mutter musste Medikamente in der Notapotheke holen. Sein Vater hätte das eigentlich erledigen sollen, bevor er geschäftlich verreisen musste, aber er hatte es vergessen, was zu einem ihrer üblichen Kriege geführt hatte.
    Während sie weg war, sollte er Stefanie im Garten Gesellschaft leisten, das hatte ihm seine Mutter gestern Abend noch befohlen.
    Er stand auf, putzte sich die Zähne, ging in die Küche und schmierte sich ein Nutellabrot in der Küche, das er mit nach draußen nahm. Seine Schwester war schon gefüttert worden, was er an ihrem fleckigen Lätzchen erkennen konnte. Er nahm ihr behutsam das Lätzchen ab und erntete wohlwollende Kommentare seiner Mutter, die versprach, gleich wieder zurück zu sein. Für Anfang Mai war es sehr warm. Er sollte mit Stefanie im Garten bleiben und ihr Die kleine Raupe Nimmersatt vorlesen. Was ein Witz war, denn er konnte nur stottern, die Buchstaben bildeten für ihn keine Worte, sondern waren merkwürdige Einzelbilder, die nie ein Ganzes ergeben wollten. Die Lehrerin hatte seine Mutter deshalb sogar schon angerufen, es dann aber aufgegeben, weil seine Mutter der Meinung war, um ihn müsse man sich keine Sorgen machen. Er war schließlich gesund. Und damit war alles in Ordnung.
    Sie verabschiedete sich mit großem Getue von Stefanie und kurze Zeit später ertönte der Motor des rollstuhlgerechten VW. Er war mit Stefanie allein.
    Viel Zeit war nicht, das wusste er. Die Apotheke, die heute Notdienst hatte, war nur fünf Autominuten entfernt.
    Er betrachtete seine Schwester und der Gedanke daran, dass er mit diesem sabbernden Wesen neun Monate im Bauch seiner Mutter eingesperrt gewesen war, ließ ihn erschaudern. Was für ein Glück, dass er nicht so aussah wie sie, dass er sprechen und laufen und denken konnte. Er würde sie aus diesem Zustand erlösen und es wäre eine Erleichterung für alle.
    Er schob sie über die Terrasse hin zu dem barrierefreien Zugang zum Pool und stellte den Rollstuhl dort an der leicht schrägen Rampe ab, auf der Stefanie sonst im Badeanzug in den Pool gefahren wurde. Dann öffnete er die Gurte, mit denen Stefanie an den Stuhl geschnallt war. Aber dann dämmerte ihm, dass das keine gute Idee war. Man würde sich fragen, wer die Gurte gelöst hatte. Wenn es wie ein Unfall aussehen sollte, dann musste sie mit dem Rollstuhl hineinfallen. Die Gurte würden sie dann auch lange genug unter Wasser halten. Er würde seiner Mutter sagen, er hätte Stefanie herumgeschoben, wäre mit ihr gerannt, weil er den Eindruck gehabt hätte, dass es ihr Freude macht. Doch dann hatte er seine Kräfte überschätzt, die Kontrolle verloren und der Rollstuhl war ihm aus der Hand gerutscht.
    Natürlich musste er in Klamotten hinterherspringen, damit es glaubwürdig wirkte.
    Er durchdachte seinen Plan noch einmal und fand, dass er durch und durch vernünftig war. Jetzt musste er dem Rollstuhl nur noch einen kräftigen Schubs geben. Alle wären erlöst. Und er wäre dann nicht mehr nur der Schatten von Stefanie, sondern derjenige, der im Licht stand. Man würde ihn endlich sehen.
    Er schnallte seine Schwester wieder fest und holte tief Luft. Jetzt.
    Er sah Stefanie in die Augen.
    Es ist das Beste für uns alle, wollte er zu ihr sagen, doch seine Worte blieben ihm im Hals stecken. Zum ersten Mal ging es ihm wie seiner Mutter, in diesem Moment konnte auch er in den Augen seiner Schwester Gefühle erkennen. Und eben jetzt hatte sie Angst, panische Angst. Sie verdrehte die Augen und ihre Lider begannen zu flattern.
    Er schluckte trocken, während sein Herz bis zum Hals klopfte. Sie war trotz allem seine Schwester.
    Dieser Gedanke schlug ein wie ein Blitz und hinterließ in seinem Bauch ein komisches, heißes Gefühl, für das er keinen Namen hatte. Eine glühende Welle strömte von dort durch seinen Körper. Ja, er war der Hauptleidtragende, ja, er war nicht viel mehr als ein Schatten, trotzdem es gab etwas, das noch sehr viel wichtiger war. Wie gelähmt starrte er seine Schwester an, er konnte kaum atmen, so entsetzt war er von dem, was er beinahe getan hätte. Ganz egal, was er war , sie war ein Mensch und er musste sie sofort von hier wegbringen! Er trat nah zu ihr und genau in diesem Moment begann seine Schwester, sich unkontrolliert zu bewegen, vielleicht war es ein Anfall, vielleicht wurde sie aber auch von Angst geschüttelt. Obwohl er sie wieder
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