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Der sueße Kuss der Luege

Der sueße Kuss der Luege

Titel: Der sueße Kuss der Luege
Autoren: Beatrix Gurian
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immer ein paar freundliche Worte für ihn, und was noch besser war, sie unterfütterte ihre Worte mit Schokoladenkeksen, selbst gebackener Linzer Torte oder Frankfurter Würstchen. Ihr großes Mitleid mit ihm hatte sie sogar dazu gebracht, mit seiner Mutter über ihn zu sprechen.
    Doch die fand die Einmischung der alten Schachtel unverschämt, nur ein Ausdruck davon, dass die keine Ahnung hatte von dem, was sie durchmachen musste. Was alle durchmachen mussten! Sein Vater hatte sich schon längst in seine Arbeit geflüchtet und war kaum mehr zu Hause.
    Wenn er da war, behandelte auch er ihn wie einen Schatten. Nur der Schatten seiner von Geburt an schwer kranken und behinderten Zwillingsschwester Stefanie. Er war gesund gewesen, aber bei ihr grenzte es an ein Wunder, dass sie nicht schon bei der Geburt gestorben war. Was seine Mutter nicht müde wurde zu betonen, als ob Stefanie das allein ihr zu verdanken hätte.
    Was für ein Wunder, dachte Jan oft verächtlich, verdammt, was denn für ein Wunder? Stefanie konnte weder gehen noch sprechen, sie musste ständig zur Dialyse, sie lachte und weinte nicht, sie saß immer nur festgeschnallt in ihrem Rollstuhl, wie ein atmendes, aber trotzdem totes Wesen aus einem fernen Land. Seine Mutter umkreiste diesen Rollstuhl wie die Erde die Sonne, sie lachte mit Stefanie und erzählte ihr Geschichten, wickelte und fütterte sie und verströmte ständig so extrem gute Laune, dass er Zahnschmerzen von ihrem zuckrigen Getue bekam. Dreimal waren sie mit Stefanie in einem Kinderhospiz gewesen, aber Gott hatte leider noch dreimal ein Wunder bewirkt und seine Schwester war wieder nach Hause zurückgekommen. Beim letzten Mal hatte man ihn bei Frau Braun abgestellt und das auch nur, weil er sich heulend zu ihr geflüchtet hatte. Obwohl sie manchmal ein bisschen vergesslich war, verstand sie, wie unerträglich es für ihn sein musste, schon wieder zum Sterben mitzugehen, und überredete seine Eltern mit dem Argument, dass er doch viel zu viel Schule verpassen würde.
    Diese zehn Tage waren die besten seines Lebens gewesen, jedenfalls bis jetzt, und dabei war ihm etwas klar geworden.
    Wenn Stefanie für immer weg wäre, dann könnte er der strahlende Rollstuhl im Leben seiner Mutter werden, dann würde sie ihn umsorgen und bekochen, mit ihm lachen und ihm Geschichten erzählen, dann würde sein Vater wieder öfter zu Hause sein und mit ihm Fußball spielen. Das hatte er einmal getan, auf dem schmalen Rasenstreifen hinter dem Swimmingpool, aber dann hatte seine Mutter behauptet, Stefanie würde das aufregen, weil sie niemals so wie Jan herumtollen könnte. Sein Vater war daraufhin ins Büro gefahren und danach hatten sie nie wieder Fußball gespielt.
    Weil seine Mutter immer wieder davon redete, dass Stefanie etwas toll fände oder sich über etwas aufregen würde, hatte er die Probe gemacht. Er hatte seine Schwester viele Stunden lang angestarrt. Aber noch nie irgendetwas auch nur entfernt Ähnliches wie eine Reaktion in ihrem breiigen Gesicht entdecken können, in dem ständig ein silberner Speichelfaden klebte, der ihn an ein Spinnennetz erinnerte.
    Auch gestern hatte er sie stundenlang betrachtet und darüber nachgedacht, wie er es tun könnte, ohne dafür bestraft zu werden.
    Seit drei Jahren hatten sie zum Ärger der Nachbarn den beheizbaren Pool in dem winzigen Reihenhausgarten hinter der Terrasse. Zu therapeutischen Zwecken, sagte seine Mutter. Dort führte sie mit seiner Schwester bei jedem Wetter gymnastische Übungen durch. Das sollte sie kräftigen und ihr Immunsystem abhärten. Danach war seine Mutter dann so erschöpft, dass sie sich hinlegen musste, denn in Wahrheit tat seine Schwester gar nichts. Seine Mutter bewegte Stefanie, und je größer und schwerer sie wurde, umso schwieriger wurde es, ihren schlaffen Kopf über Wasser zu halten.
    Mit ihm hatte seine Mutter nie auch nur eine Minute im Pool verbracht.
    Schwimmen hatte er dann in der Vorschulklasse gelernt, und als er sein Seepferdchen abgelegt hatte, war er der Einzige, dessen Eltern nicht da waren, um ihn anzufeuern. Aber Frau Braun war gekommen und hatte sich als seine Oma ausgegeben. Als er eingeschult worden war, hatte er als Einziger keine Schultüte gehabt. Dafür hatte sich seine Mutter später entschuldigt. Stefanie hatte damals gerade diesen schlimmen Darmvirus gehabt, es wäre einfach keine Zeit für solche Unwichtigkeiten geblieben, sagte sie. Sein Vater hatte ihm abends eine Schultüte mitgebracht, aber die
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