Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der sueße Kuss der Luege

Der sueße Kuss der Luege

Titel: Der sueße Kuss der Luege
Autoren: Beatrix Gurian
Vom Netzwerk:
laufen!«
    Sie bückte sich mit einem Ächzen und versuchte, die Knoten zu lösen, mit denen das Kind gefesselt war, aber ihre Hände zitterten stark und sie brauchte lange.
    »Wenn du schön brav bleibst, dann gibt dir Mama ein paar von den bunten Bonbons. Wo habe ich die nur hingetan?« Sie suchte in den Taschen ihrer verwaschenen hellblauen Strickjacke, bis sie etwas gefunden hatte, ein kleines Plastikdöschen mit roten und gelben Kapseln. Verblüfft betrachtete sie den Behälter, so als würde sie ihn zum ersten Mal sehen, schüttelte dann den Kopf und steckte ihn zurück in die Jackentasche. »Wir müssen hier weg, denn wenn ich dich gefunden habe, dann finden uns die anderen auch.«
    Die Alte kniete sich mühsam neben das Kind, dabei stützte sie sich auf dem Beil ab und unterdrückte ein Stöhnen. »Ich weiß, du bist kein böses Mädchen, ich bin auch kein böses Mädchen. Ich singe dir etwas.«
    Mit zunächst zittriger, dann immer kräftigerer, angenehmer Altstimme begann sie zu singen. »Guten Abend gut Nacht, mit Rosen bedacht, mit Nelklein besteckt, morgen früh, wenn Gott will, wird Maria geweckt…«
    Dabei presste sie das Mädchen wieder an ihren Körper und schaukelte es immer noch auf den Knien sanft hin und her.
    Ihr Blick fiel auf das Beil. Warum war das Beil hier? Hätte sie nicht Hühner schlachten sollen? Oder etwas anderes?
    Sie hörte Schritte.
    Sie lauschte angestrengt in die Dunkelheit.
    Diese Schritte. Sie kamen, um sie zu holen!
    Ein Versteck, sie musste ein gutes Versteck für sie beide finden, aber wo? Schnell, denn die Schritte kamen unerbittlich und immer schneller näher, und da wusste sie, dass sie auf das Boot mussten. Ja, das Boot. Sie griff nach dem Kind und schleppte sich durch die hintere Tür des Schuppens nach draußen an den See, wo der Kahn lag.
    Doch es entging ihr, dass sie eine Blutspur hinterließen, die jedem Verfolger den Weg gewiesen hätte.

Lu am Donnerstag, dem 7. Juni 2012, Fronleichnam
    Wenn sie stirbt, dann ist es allein meine Schuld und wie könnte ich damit weiterleben?
    Wirklich, ich hatte keine Ahnung, dass Liebe so gefährlich sein kann. Mir war klar, dass Liebe sehr glücklich machen kann oder auch sehr unglücklich. Doch die Liebe vermag noch viel mehr. Liebe kann gerade die Menschen töten, die du am liebsten hast. Und das Schlimmste daran ist, es kann jedem passieren. Aber das glaubt dir niemand. Jeder denkt, so etwas geschieht nur anderen und man selbst würde natürlich sofort merken, wenn etwas schiefläuft. Doch das ist eine Illusion, denn in Wirklichkeit gibt es die eine Wahrheit gar nicht.
    Natürlich würde und werde ich alles tun, ja sogar beten, um ihr zu helfen, aber zu welchem Gott? Welcher Gott könnte so grausam sein, ihr zuerst so etwas anzutun, nur um sie dann gnädig wieder zu retten? Und wenn keiner sie rettet, wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen, sie zu finden?
    Ich muss mich beeilen und ich muss mich endlich beherrschen, doch wenn ich an ihre braunen Augen denke, an die kleinen Speckknubbel über ihren Ellenbogen und ihr rot verschmiertes Gesicht, wenn sie heimlich Himbeermarmelade genascht hat, dann möchte ich den Kopf in meine Arme legen und nur noch heulen.
    Schon tropfen wieder Tränen aus meinen Augen auf den Block, der hier in diesem Vernehmungszimmer vor mir auf dem weißen Resopaltisch liegt, und verwandeln meine Notizen in verschwommene Tintenkleckse. Sie haben gesagt, wenn ich es schaffe, mich an jedes noch so kleine Detail zu erinnern, kann ich sie vielleicht retten, deshalb muss Schluss sein mit der Heulerei, ganz egal, wie schmerzhaft es ist, sich unter diesen Bedingungen an etwas zu erinnern, von dem ich dachte, es wäre das Schönste in meinem Leben.
    Die Kriminalbeamten tun zwar so, als wäre es nicht meine Schuld, aber sobald Yukiko wieder in Frankfurt gelandet ist, wird sich das ändern, denn sie ist hellsichtig wie alle Mütter. Ihr wird klar sein, dass das, was passiert ist, kein Schicksal war, sondern einzig und allein die Konsequenz aus meiner unfassbaren Dummheit.
    Und wie groß diese Dummheit war, erkennt man allein schon daran, dass ich bis gestern dachte, das Schlimmste, was mir jemals passieren könnte, wäre, nie wieder von ihm zu hören oder von ihm betrogen zu werden, mit einer Glatze aufzuwachen oder fünf Kilo zuzunehmen.
    Ich schaue auf die große runde Uhr, der einzige Schmuck an den kahlen grauen Wänden in diesem winzigen Raum, sehe, wie der Sekundenzeiger rasend schnell vorrückt, und zwinge
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher