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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Bordeaux konsu-mierte, zögerte er lange, auch F mit Bordeaux zu beschenken, weil er damit zugeben mußte, von F’s Krankheit zu wissen.
    Doch sagte er sich, daß auch andere Mitglieder des Sekretariats davon wissen mußten. Er hatte sein Wissen vom Chef der Geheimpolizei C, und es schien unwahrscheinlich, daß es anderen nicht mitgeteilt worden war. Daher beschloß er doch, F eine Kiste Lafitte 45 zu überlassen. Der Minister der Schwerindustrie revanchierte sich umgehend. Die Geschenke des Schuhputzers waren berüchtigt. N öffnete das Paket unvorsichtigerweise am Familientisch. Es enthielt eine Filmrolle, die N, ahnungslos über ihren Inhalt und getäuscht durch die Auf-schrift ›Szenen aus der Französischen Revolution‹ auf Bitten seiner Frau und seiner vier Kinder im Heimkino vorführen ließ.
    Es war ein pornographischer Film. Ähnliche Geschenke beka-men gelegentlich auch die andern Mitglieder des Politischen Sekretariats, wie N später erfuhr. Dabei wußte man, daß sich F
    aus Pornographie nichts machte. Er schenkte sie, um ein Druckmittel in der Hand zu haben, und tat so, als ob der Beschenkte die Pornographie liebe. »Na, wie hat Ihnen die kleine Schweinerei gefallen?« sagte er anderntags zu N, »sie ist zwar nicht nach meinem Gusto, aber ich weiß, daß Sie so was mögen.« N wagte keinen Widerspruch. Er sandte dem Schuhputzer, um sich zu bedanken, eine Kiste Château Pape Clément 16

    34. So häufte sich beim nüchternen und erotisch mäßigen N
    das pornographische Material an, und gleichzeitig sah er sich gezwungen, weiteren Bordeaux herbeizuschaffen, denn der Nachschub aus Paris kam nur halbjährlich, und Flaschen, die ihm B schenkte, F zuzustellen, wagte er nicht. Wohl waren der Außenminister und der Minister für die Schwerindustrie verfeindet, aber ein Frontwechsel konnte eintreten. Schon oft waren unpersönliche Feinde durch plötzliche gemeinsame Interessen unzertrennliche Freunde geworden. N war genötigt, den Außenhandelsminister E ins Vertrauen zu ziehen. Es stellte sich heraus, daß auch dieser die Wildsau und den Schuhputzer mit Bordeaux beschenkte. E vermochte zwar N durch seine Außenhandelsbeziehung zu helfen, doch nicht ständig. N
    vermutete, daß auch noch andere D und F beschenkten und von F mit belastendem Material belohnt wurden.
    N gegenüber hatte die ›Parteimuse‹ M Platz genommen. Die Ministerin für Erziehung war blond und stattlich. Von ihren Brüsten weissagte einmal A während einer Sitzung des Gremiums, sie seien das Hochgebirge, von dessen Gipfeln der Parteichef zu Tode stürzen werde. Die Parteimuse erschien damals in besonders eleganter Aufmachung, und A drohte mit seiner plumpen Zote der Wildsau. D stand im Rufe, M’s Liebhaber zu sein. Seitdem kam M zur Sitzung des Sekretariats nur noch in einem schlichten, grauen Jackettkleide. Daß sie jetzt in einem tief ausgeschnittenen, schwarzen Cocktailkleid auftrat, verwirr-te N, um so mehr, als sie auch Schmuck trug. Der Anlaß dazu mußte ein besonderer sein. Auch sie mußte von O’s Verhaftung wissen. Die Frage war nur, ob die Parteimuse sich durch ihr Kleid von D distanzieren wollte, indem sie sich unbekümmert gab, oder ob sie damit beabsichtigte, sich mit dem Mute der Verzweiflung demonstrativ als dessen Geliebte zu benennen.
    Vom Parteichef D bekam N keine Antwort, denn D schien M
    nicht zu beachten. Er saß jetzt an seinem Platz und studierte ein Schriftstück.

    17

    M’s Kleiderwahl wurde noch zweideutiger, als nun der Schuhputzer den Raum betrat, F, der kleine dicke Minister für die Schwerindustrie. Er eilte, ohne sich um die andern zu kümmern, auf die Parteimuse zu und rief aus, Donnerwetter, das sei ein Kleid, entzückend, phantastisch, etwas anderes als die ewige Kluft, die man in der Partei trage. Zum Teufel mit den Uniformen. Alle starrten F an, der weiterfuhr, weshalb man eigentlich die Revolution durchgeführt, die Plutokraten und Blutsauger ausgetilgt und die Großbauern an die Kirschbäume geknüpft hätte. »Um die Schönheit einzuführen«, schrie er und umarmte und küßte die Erziehungsministerin, als wäre sie eine Bauerndirne: »Dior den Arbeitern!«, worauf er sich auf seinen Platz zwischen D und H setzte, die beide von ihm abrückten, mußten sie sich doch, wie N, sagen, daß der Minister für die Schwerindustrie aus Galgenhumor handelte und offenbar damit rechnete, O’s Verschwinden gelte dem Chefideologen und so auch ihm, wenn es auch möglich war, daß F’s Übermut nicht
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