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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Sache der Wenigen, noch allein Sache der revolutionären Köpfe und 22

    noch zu wenig Sache der Massen, die zwar den Weg der Revolution eingeschlagen hätten, jedoch ebenso leicht wieder davon abkommen könnten. Noch könne sich die revolutionäre Ordnung nur durch Gewalt behaupten, die Revolution sich nur durch die Diktatur der Partei durchsetzen, aber auch die Partei würde zerfallen, wäre sie nicht von oben nach unten organisiert worden, so daß die Schaffung des Politischen Sekretariats eine geschichtliche Notwendigkeit gewesen sei. A unterbrach seine Ausführungen und beschäftigte sich mit seiner Pfeife, setzte sie aufs neue in Brand. Was A dozierte, dachte N, sei populäre Parteidoktrin, warum es auch immer wie in einer Parteischule zugehen müsse, bevor das Eigentliche, das Gefährliche komme, überlegte er. Es gehe formelhaft zu, wo man sich auch befinde. Wie ein endloses Gebet würden die politischen Maxi-men heruntergeleiert, mit denen A im Namen der Partei seine Macht begründe. Inzwischen kam A jedoch zur Sache. Er holte zum Schlag aus. Jeder erzielte Fortschritt in Richtung auf das Endziel, dozierte A, scheinbar harmlos, ohne die Stimme zu verändern, verlange eine Änderung der Partei. Der neue Staat habe sich bewährt, die Ministerien seien durch die Sachgebiete gegeben, der neue Staat sei seinem Inhalte nach fortschrittlich, seiner Form nach diktatorisch. Er sei der Ausdruck der praktischen Notwendigkeiten gegen innen und außen, denen man gegenüberstehe; den praktischen Bedürfnissen entgegengesetzt sei jedoch die Partei als ein ideologisches Instrument berufen, den Staat, komme die Zeit, zu verändern: der Staat könne sich als eine gegebene Größe nicht revolutionieren, das könne nur die Partei, die den Staat kontrolliere. Von ihr allein könne eine Veränderung des Staates nach den Bedürfnissen der Revolution erzwungen werden: gerade deshalb dürfe die Partei nicht unwandelbar sein, ihre Struktur müsse sich nach den erreichten Etappen der Revolution richten. Jetzt sei die Struktur der Partei noch hierarchisch und von oben gelenkt, was der Kampfzeit entspreche, in der sich die Partei befunden habe; die Kampfzeit 23

    sei jedoch vorüber, die Partei habe gesiegt, die Macht befinde sich bei ihr, der nächste Schritt sei die Demokratisierung der Partei, der damit eine Demokratisierung des neuen Staates einleite: demokratisiert werden könne die Partei jedoch nur, indem man das Politische Sekretariat abschaffe und seine Macht einem erweiterten Parteiparlament delegiere, denn der einzige Zweck des Politischen Sekretariats habe darin bestanden, die Partei als eine tödliche Waffe gegen die alte Ordnung einzusetzen, eine Aufgabe, die erfüllt worden sei, die alte Ordnung bestehe nicht mehr, weshalb man nun das Politische Sekretariat liquidieren könne.

    N erkannte die Gefahr. Sie bedrohte indirekt alle und direkt keinen. A’s Vorschlag war überraschend. Nichts hatte darauf hingewiesen, daß A einen solchen Vorschlag machen würde, der Vorschlag entsprach einer Taktik, die mit dem Unverhoff-ten arbeitete. A’s Ausführungen waren zweideutig, seine Absichten eindeutig. Seine Rede war scheinbar logisch gewesen, im traditionell revolutionären Stil der Revolution gehalten, zugeschliffen in den unzähligen geheimen und öffentlichen Versammlungen der Kampfzeit. In Wirklichkeit aber hatte die Rede einen Widerspruch enthalten, und in diesem Widerspruch war die Wahrheit versteckt gewesen: A wollte die Partei entmachten, indem er sie demokratisierte, ein Vorgang, der ihm die Möglichkeit zuspielte, das Politische Sekretariat zu stürzen und seine Alleinherrschaft endgültig zu installieren.
    Getarnt durch ein Scheinparlament würde er dadurch mächtiger denn zuvor, weshalb er denn auch zu Beginn von der Notwendigkeit der Gewalt gesprochen hatte. Daß eine neue Säuberung drohte, war zwar nicht sicher. Die Auflösung des Politischen Sekretariats konnte auch ohne Säuberung vor sich gehen. Aber A neigte dazu, jene Elemente zu liquidieren, die er verdächtigte oder die verdächtigt wurden, seiner Alleinherrschaft Wider-stand entgegenzusetzen. Daß A diese Elemente im Politischen 24

    Sekretariat vermutete, war durch die Verhaftung O’s wahrscheinlich. Doch bevor sich N zu überlegen vermochte, ob er für A eine Gefahr darstelle oder nicht und inwieweit mit der Auflösung des Politischen Sekretariats auch sein Sturz als Postminister möglich sei – zu seinen Gunsten konnte er im Moment nur die
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