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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Schnaps und Champagner, doch war seine rauhe Stimme ruhig, und seine wässerigen, blutunterlaufenen Augen blickten spöttisch: »Kamerad«, sagte er zu N, »wir sind erledigt. O ist nicht gekommen.« N antwortete nicht. Er zuckte nicht einmal zusammen. Er spielte den Gleichgültigen. Vielleicht war O’s Verhaftung ein Gerücht, vielleicht täuschte sich L, und wenn sich L nicht täuschte, so war N’s Lage vielleicht doch nicht so hoffnungslos, wie jene L’s, der für den Transport verantwortlich war. Wenn es in der Schwerindustrie, in der Landwirtschaft, bei der konventionellen oder bei der atomaren Energieversorgung nicht klappte (und irgend etwas klappte immer nicht), stets konnte auch der Transportminister verantwortlich gemacht werden. Pannen, Verzögerungen, Stockun-gen. Die Distanzen waren beträchtlich, die Kontrollen schwerfällig.

    9

    Der Parteisekretär D und der Minister I kamen. Der Parteisekretär war fett, mächtig und intelligent. Er trug den militärisch zugeschnittenen Anzug, womit er A kopierte, aus Unterwürfig-keit wie einige, aus Spott, wie andere glaubten. I war rothaarig und schmächtig. Er war nach A’s Machtübernahme Generalstaatsanwalt und ein besonders forscher Kerl gewesen. Er setzte in der ersten großen Säuberung die Todesurteile gegen die alten Revolutionäre durch, wobei ihm ein Irrtum unterlief.
    Er forderte auf A’s Wunsch für dessen Schwiegersohn das Todesurteil, und als A unerwartet intervenierte, um seinem Schwiegersohn doch noch zu verzeihen, war der Schwiegersohn bereits erschossen, ein Lapsus, der I nicht nur die Stellung als Generalstaatsanwalt kostete: noch schlimmer, er kam an die Macht. Er wurde zum Mitglied des Politischen Sekretariats ernannt und damit auf die bequemste der möglichen Abschuß-
    listen gesetzt. Er erreichte eine Position, wo ihm nur mit politischen Gründen der Garaus gemacht werden konnte, und politische Gründe ließen sich immer finden. Im Falle I’s waren sie schon vorhanden. Zwar glaubte niemand, A hätte seinen Schwiegersohn retten wollen. Die Hinrichtung seines Schwiegersohnes kam A sicher nicht ungelegen (A’s Tochter stieg schon damals mit P ins Bett); aber A besaß jetzt eine öffentliche Ausrede, I zu erledigen, wenn er ihn einmal erledigen wollte, und weil A noch nie eine Chance ausgelassen hatte, jemanden zu erledigen, gab man I keine Chance mehr. I wußte dies und benahm sich, als wüßte er es nicht, wenn auch unge-schickt. Auch jetzt. Er versuchte allzu offensichtlich, seine Unsicherheit zu verbergen. Er erzählte dem Parteisekretär von einer Aufführung des Staatlichen Balletts. I erzählte in jeder Sitzung von der Tanzerei und warf mit Fachausdrücken der Ballettkunst um sich, besonders, seit er noch das Landwirt-schaftsministerium übernehmen mußte, obgleich er als Jurist von der Landwirtschaft nichts verstand. Zudem war das Land-wirtschaftsministerium womöglich noch tückischer als das 10

    Transportministerium und schadete mit der Zeit noch jedem; denn in der Landwirtschaft versagte die Partei zwangsläufig.
    Die Bauern waren unerziehbar, egoistisch und faul. Auch N
    haßte die Bauern, nicht an sich, sondern als ein unlösbares Problem, woran die Planer scheiterten, und weil nun einmal Scheitern lebensgefährlich war, haßte N die Bauern doppelt, und aus seinem Haß heraus begriff er sogar I’s Verhalten: wer wollte schon von Bauern reden? Nur der Minister für die Schwerindustrie F, der in einem Dorfe aufgewachsen und wie sein Vater Dorfschullehrer gewesen war und eine von einem ländlichen Lehrerseminar roh und primitiv zusammengezim-merte Halbbildung besaß, der wie ein Bauer aussah und wie ein Bauer redete, erzählte im Politischen Sekretariat von Bauern, tischte Bauernanekdoten auf, die bloß ihn erheiterten, zitierte Bauern-Sprichwörter, die nur er begriff, während der gebildete Jurist I, der sich mit Bauern herumschlug und an ihrem Un-verstand verzweifelte, um nicht von ihnen reden zu müssen, seine Ballettgeschichten herunterplapperte und damit jeden anödete, am meisten A, der den Landwirtschaftsminister
    ›unsere Ballerina‹ nannte (vorher hatte er ihn ›unseren Him-melfahrtsjuristen‹ genannt). Trotzdem verachtete N den ehemaligen Generalstaatsanwalt, dessen sommersprossige Juristenvi-sage ihm widerlich war. Aus einem fixen Henker war ihm allzu schnell ein ängstlicher Kriecher geworden. N bewunderte dagegen D’s Haltung. Bei all dessen Macht innerhalb der Partei und bei all dessen politischer
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