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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Intelligenz empfand ›die Wildsau‹, wie ihn A bezeichnete, sicher auch Furcht, sollte die Nachricht von O’s Nichterscheinen zutreffen, doch D be-herrschte sich. Er verlor seine Lockerheit nie. Der Parteisekretär blieb auch in der Gefahr gelassen. Aber seine Lage war ungewiß. O’s Verhaftung (falls sie nicht ein bloßes Gerücht war, das durch sein Nichterscheinen verursacht wurde) konnte einen Angriff auf D einleiten, weil O in der Partei D unter-stand, sie konnte jedoch auch auf den Sturz des Chefideologen 11

    G hinzielen, als dessen persönlicher Schützling O galt: daß O’s Liquidierung (falls sie eintraf) D und G zugleich bedrohte, war an sich möglich, doch kaum wahrscheinlich.

    Der Chefideologe G hatte das Versammlungszimmer schon betreten. Er war linkisch, trug eine verstaubte randlose Brille und hielt den professoralen Kopf mit der weißen Mähne schräg. Er war ein ehemaliger Gymnasiallehrer aus der Provinz
    – A nannte ihn den ›Teeheiligen‹. G war der Theoretiker der Partei. Er war ein Abstinenzler und Asket mit Schillerkragen, ein hagerer Introvertierter, der auch im Winter Sandalen trug.
    War der Parteisekretär D vital, ein Genießer und Frauenheld, war beim Chefideologen G jeder Schritt theoretisch ausgeklü-
    gelt und führte nicht selten ins Absurde und Blutrünstige. Die beiden standen sich feindlich gegenüber. Statt sich zu ergänzen, rieben sie sich aneinander auf, stellten sich Fallen, versuchten einander zu stürzen: der Parteisekretär als ein Techni-ker der Macht stand dem Chefideologen als einem Theoretiker der Revolution gegenüber. D wollte die Macht mit allen Mitteln behaupten, G die Macht mit allen Mitteln rein erhalten, als sterilisiertes Skalpell in den Händen einer reinen Lehre. Der Wildsau waren der Außenminister B, die Erziehungsministerin M und der Transportminister L verbunden, auf sehen des Teeheiligen standen der Landwirtschaftsminister I und der Staatspräsident K sowie der Minister für die Schwerindustrie F, der an Gewalttätigkeit D kaum nachstand, sich jedoch aus jener Abneigung heraus, die ein Machtbesessener einem anderen Machtbesessenen gegenüber zu empfinden vermag, im Lager G’s befand, obgleich der ehemalige Dorfschullehrer dem ehemaligen Gymnasiallehrer gegenüber mit Minderwertig-keitsgefühlen belastet war und ihn wahrscheinlich insgeheim auch haßte.

    12

    Eigentlich grüßte G D nicht mehr. Daß der Chefideologe den Parteisekretär jetzt grüßte, wie N erschrocken bemerkte, wies auf G’s Furcht hin, O’s Verschwinden gelte ihm, so wie der Umstand, daß D zurückgrüßte, auf dessen Furcht schließen ließ, er sei bedroht. Daß sich jedoch beide fürchteten, bedeutete, daß O wirklich verhaftet sein mußte. Die Tatsache aber, daß der Teeheilige herzlich, die Wildsau dagegen nur freundlich grüßte, deutete darauf hin, daß die Bedrohung des Chefideologen eine Nuance möglicher war, als jene des Parteisekretärs. N atmete etwas auf. D’s Sturz hätte auch N in Verlegenheit gebracht. N
    war auf Vorschlag der Wildsau als stimmberechtigtes Mitglied ins Sekretariat aufgenommen worden und galt als dessen persönlicher Schützling, eine Ansicht, die gefährlich werden konnte, auch wenn sie der Wirklichkeit nicht ganz entsprach: erstens gehörte N keiner Gruppe an, zweitens erwartete damals der Chefideologe, der sich für den Atomminister O einsetzte, vor der Wahl, daß der Parteisekretär seinen Schützling, den Chef der Jugendgruppen P, vorschlage. Doch die Wildsau sah ein, daß es leichter war, einen neutralen Anwärter ins Sekretariat zu wählen, als einen seiner Parteigänger oder einen seines Gegners – und außerdem hatte sich inzwischen A’s Tochter wieder von P
    getrennt, um mit einem von der Partei geehrten Romanschrift-steller zu schlafen –, worauf D seinen Kandidaten fallen ließ, um N vorzuschlagen, wodurch der Teeheilige überspielt wurde und ebenfalls für N stimmen mußte. Drittens war N nichts als ein Spezialist in seinem Ressort und für D und G harmlos. Er war für A so unbedeutend, daß er nicht einmal einen Übernamen bekommen hatte.

    Das traf freilich auch für den Außenhandelsminister E zu, der hinter G den Raum betreten und gleich Platz genommen hatte –
    während der Chefideologe immer noch neben dem unbe-schwert grinsenden Parteisekretär stand, verlegen lächelnd, die runde Schulmeisterbrille reinigend, vom Landwirtschaftsmini-13

    ster I mit Klatsch über den ersten Solotänzer belästigt –, E war
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