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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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vor welchem Wendepunkt, ebensowenig, wie er über das Vorgehen A’s eine Voraussage wagte. A war ein gerissener Taktiker, seinen verblüffenden Schachzügen im Spiel um die Macht war niemand gewachsen, nicht einmal B. Er war ein instinktiver Menschenkenner, der die Schwäche eines jeden Rivalen kannte und ausnützte, er verstand sich auf den Men-schenfang und die Menschenjagd wie kein anderer im Politischen Sekretariat, aber er war nicht der Mann des offenen Zweikampfes, er brauchte den Kampf im Versteckten, den Angriff aus dem Unvermuteten. Seine Fallen legte er im Dschungel der Partei mit ihren tausendfältigen Abteilungen und Unterabteilungen, Zweigen und Nebenzweigen, Gruppen, Obergruppen und Untergruppen; einen offenen Widerspruch, einen Angriff von Mann zu Mann mußte er schon lange nicht mehr erlebt haben. Die Frage war, ob A sich aus der Fassung 29

    bringen ließ, ob er die Übersicht verlieren, ob er voreilig handeln, ob er die Verhaftungen zugeben oder weiterhin leugnen würde, alles Fragen, die N nicht zu beantworten vermochte, weil er selber nicht wußte, was er anstelle A’s hätte tun sollen; doch kam N nicht dazu, seine Mutmaßungen über A’s wahrscheinliches Verhalten fortzusetzen, denn kaum hatte Marschall K seine erste Atempause gemacht, Kraft zu holen, um in seiner Ergebenheitserklärung A gegenüber noch enthu-siastischer zu werden, als F ihn unterbrach und zu reden begann. Eigentlich hatte F nicht nur den Staatspräsidenten K
    unterbrochen, sondern auch unfreiwillig A, der, als K eine Pause machte, die Pfeife aus dem Munde genommen hatte, um wohl L endlich zu entgegnen, doch F, der es nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte, war schneller. Er begann zu reden, bevor er noch aufgestanden war, dann stand er unbeweglich, klein, dick, unglaublich häßlich, mit Warzen im Gesicht, die Hände vor den Bauch gefaltet, wie ein plumper, betender Bauer im Sonntagsgewand, und redete und redete. N wußte sofort warum. Die Ruhe des Ministers für die Schwerindustrie täuschte. Der Schuhputzer handelte aus purem Entsetzen über L’s Vorgehen, er sah schon A’s Zorn über alle herfallen, die Verhaftung des gesamten Politischen Sekretariats bevorstehen.
    Als Sohn eines Dorflehrers hatte der Schuhputzer sich mühsam in der Provinz hochgebüffelt. Früh in der Partei, wurde er verspottet, nie ernst genommen, auf vielerlei Arten gedemütigt, als Lakai eingesetzt, bis er doch hochkam (was viele büßen mußten), weil er keinen Stolz hatte (den er sich nicht leisten konnte), sondern nur Ehrgeiz, und weil er zu allem fähig war, und nun war er zu allem fähig. Er verrichtete die schmutzigsten Arbeiten (die blutigsten), blind im Gehorsam, bereit zu jedem Verrat, in vielem der durchaus Schrecklichste der Partei, schrecklicher noch als A, der schrecklich durch seine Taten, aber bedeutend durch seine Person war. A war nicht defor-miert, weder durch den Kampf, noch durch die Macht. A war, 30

    wie er war, ein Stück Natur, ein Ausdruck seiner mächtigen Gesetzmäßigkeit, durch sich selbst geformt und nicht durch andere. F war nur schrecklich, die Unwürde war ihm geblieben, er konnte sie nicht abschütteln, sie blieb an ihm haften, selbst die beiden Gin-gis-Khane wirkten neben ihm aristokratisch, selbst A, der ihn doch brauchte, nannte ihn öffentlich nicht nur Schuhputzer, sondern auch den Arschlecker; darum war jetzt auch seine Furcht größer als die Furcht der ändern. F hatte alles getan, um nach oben zu kommen. Nun, am Ziel, sah er durch die wahnwitzigen Ausfälle L’s seine unmenschlichen und unwürdigen Anstrengungen gefährdet, seine grotesken Selbst-verleugnungen sinnlos und seine schamlosen Kriechereien vergeblich geworden; so mächtig hatte ihn die panische Angst befallen, daß er sogar, besinnungslos vor Furcht, A das Wort abgeschnitten hatte (wie nun N überzeugt war), doch F wollte wohl der Ergebenheitserklärung K’s noch schnell, als könnte das ihn retten, die seine beifügen, das freilich auf seine Weise.
    Er lobte nicht A, wie es der Staatspräsident maßlos getan hatte, er griff noch maßloser L an. Er begann nach seiner Gewohnheit mit den ewigen Bauernsprüchen, die er sich angeeignet hatte, gleichgültig, ob sie paßten oder nicht. Er sagte: »Bevor der Fuchs angreift, werden die Hühner frech.« Er sagte: »Der Bauer wäscht sein Weib nur, wenn der Junker mit ihr schlafen will.« Er sagte: »Der Jammer kommt vor dem Galgen.« Er sagte: »Auch ein Großbauer kann in die Jauchegrube
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