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Der stumme Handlungsreisende

Der stumme Handlungsreisende

Titel: Der stumme Handlungsreisende
Autoren: Michael Lewin
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Ich hielt inne, horchte, setzte die Orangensaftflasche ab und
     stürzte die acht gewaltigen Stufen von meinem Wohnzimmerstuhl zu
     meiner Bürotür hinauf. Ich hob sie an und zog. Sie flog auf.
    »Hallo«, sagte
     ich mit meinem besten Lächeln.
    Eine Frau mittleren Alters
     mit einem langen, braunen Regenmantel war schon wieder auf halbem Wege die
     Treppe hinunter. Sie drehte sich um und sah mich an.
    »Kann ich Ihnen helfen,
     Ma’am?«
    Sie sagte: »Ich…
     ich… ich…« Dann lief sie die Treppe hinab und raus auf
     die Straße. So eine Zeitungsannonce bringt’s eben.
    Ich ging schließlich
     gleichfalls die Treppe hinunter, aber nicht, um sie zu verfolgen. Mir war
     ein Brief in dem Drahtkorb aufgefallen, in dem die Dinge landen, die durch
     meinen Postschlitz geworfen werden. Für gewöhnlich war ich nicht
     besonders erpicht auf meine Post, aber der Brief letzte Woche war von
     meiner Tochter gewesen. Ich hatte sie seit zwölf Jahren nicht mehr
     gesehen, und sie hatte mir mitgeteilt, daß sie mich vielleicht
     besuchen würde. Ihre Mama und ihr reicher
     neuer Daddy verbrachten den Sommer in Connecticut, was schließlich
     beinahe nebenan war. Noch am Fuße der Treppe riß ich den
     Briefumschlag auf.
    Es war ein Kündigungsschreiben
     von meinem Vermieter.
    Sie wollten das Gebäude
     abreißen, um Büros zu bauen. Das schien nicht fair zu sein,
     wenn man bedachte, daß mir dasselbe schon mal passiert war. Dort, wo
     früher mein Büro gewesen war, in dem ich zehn Jahre verbracht
     hatte, stand nun ein mehrstöckiges Parkhaus.
    Aber Indianapolis ist eben
     diese Art Stadt, eine Stadt, die in den Himmel schießt ohne Rücksicht
     auf Gestriges. Und Sanierung ist etwas, wogegen man sich nur mit viel Geld
     impfen lassen kann. Ich mußte bis Mitte Oktober geräumt haben.
    Vorher war ich bedrückt
     gewesen, aber jetzt war ich einfach nur noch traurig. »Diese
     herrliche, splittrige, modrige Holztreppe«, sagte ich zu mir selbst.
     »Aaach, ach ja.«
    Aber bis ich zu meinem
     Mittagessen zurückgekehrt war, hatte ich auch schon die gute Seite an
     der Sache entdeckt. Ohne Aufträge würde ich Unmengen Zeit für
     den Umzug haben. Alles im Leben hat irgendwie einen Sinn.
    Wenn mich allerdings auch in
     absehbarer Zeit niemand engagierte, würde ich mir auch noch den
     zweiten Schuh weichkochen müssen…
    Ich wurde langsam manisch vor
     Depression.
    Das Telefon klingelte. Ich
     setzte mich und lauschte einen Augenblick. Zuckte mit den Schultern.
    »Albert Samson,
     Privatdetektei.«
    »Mein Name ist Mrs.
     Dorothea Thomas«, sagte eine Frau. »Ich brauche jemanden, der
     für mich einer Sache auf den Grund geht. Tun Sie so etwas?«
    »Ja«, sagte ich
     und hoffte, daß sie über die Art von Job sprach, mit der ich
     fertig werden konnte. Der Rest des letzten Schuhs hatte mir nicht überwältigend
     gemundet.
    »Machen Sie
     Hausbesuche, Mr. Samson?«
    »Ja«, sagte ich.
     Dann fügte ich hinzu: »Innerhalb einer vernünftigen
     Entfernung von Indianapolis.« Denn ich wollte nicht übereifrig
     erscheinen. Sie hätte sonst denken können, daß ich sie
     fressen wollte. Aber ihr Haus lag in Beech Grove, und sie wollte mich um
     acht Uhr dahaben. Ich zog meinen Terminplan zu Rate und stellte fest, daß
     ich abkömmlich war.
    »Bevor Sie auflegen,
     Mrs. Thomas, darf ich Sie vielleicht noch fragen, ob Sie mich aufgrund
     meiner heutigen Anzeige im Stur angerufen haben?«
    »Anzeige?« fragte
     sie. »Nein, ich habe einfach die kleinste Anzeige in der Liste der
     Detektive in den gelben Seiten herausgesucht.«
    »Oh«, sagte ich.
    »Also bis heute abend«,
     sagte sie.
    *
    Beech Grove - Buchenhain -
     ist ein Vorort, der etwa sechs Meilen näher am Zentrum von
     Indianapolis liegt als die meisten anderen. Das Haus war ein solider
     Backsteinbau und stand schon ziemlich lange auf seinem Fleck. Es schien
     genau das richtige Haus, um einen behaglichen Ehrgeiz darin zu
     beherbergen. Über seiner linken Schulter ragte eine große Buche
     auf, und ich fragte mich, was Leute, die in so geregelten Verhältnissen
     leben, nur von mir wollen konnten.
    Vielleicht wollten sie überhaut
     nichts von mir - vorn auf der Veranda brannte kein Licht, und auch sonst
     war die Vorderfront des Hauses vollkommen dunkel. Da ich fünf Minuten
     zu früh war, blieb ich noch in meinem Lieferwagen sitzen. Während
     ich das Haus beobachtete, sah ich, wie sich eine weibliche Silhouette an
     seiner Seite entlang auf die Veranda zu
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