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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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man sieht, hört, riecht, schmeckt, empfindet viel empfindlicher, man denkt in Gerüchen, in Tasterlebnissen, als seien Gedanken und Begriffe sinnliche Phänomene, die sich zu ihrer Artikulation alle möglichen Erscheinungsformen der Natur suchen wie zum Beispiel Wind, Wellen, Wetter, Blumen, Steine, Vögel, Fische, Schmetterlinge. Alles ist Sprache, und alles ist zugleich stumm, alles ist Zeit, egal ob Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit, und alles ist zugleich Ewigkeit. Eine ziehende Wolke vermag in jenen glücklichen Tagen mehr Gedankenspiele auszulösen als später die Lektüre eines noch so klugen Buches. Die Seele eines Kindes ist durchtränkt von einer Magie, derer sich erwachsene Menschen eher schämen und die sie im dunkelsten Eck des Kellers ihrer Person verwahren wie Kartoffeln, weil deren wachsende, bleiche Augen etwas zu sehen in der Lage sind, was das normale Leben stört.
    Jene Magie, von der ich rede, hängt mit Phantasie zusammen. Die Phantasie eines Kindes ist anders als die eines Erwachsenen. Sie gleicht einer Hülle, die das Kind wie eine dünne, unsichtbare Membran umgibt. Sie reagiert wie ein hochempfindliches Mikrophon oder ein lichtempfindlicher Film auf alles, was auf sie von außen einwirkt. Das Ąlterwerden ist der Prozess, in dem diese dünne Haut verhornt oder verkalkt, bis sie zum Schneckenhaus wird, in das sich das Ich schließlich aus Angst vor allzu großer Freiheit zurückzieht. Die Phantasie des Erwachsenen ist dann nichts anderes mehr als der Versuch, dieses Haus mit Bildern eines verloren gegangenen Lebens auszuschmücken.
    All dies dachte ich im Schlaf, ohne eigentlich zu denken, so wie man in der Dunkelheit eines Traumes vieles klarer sieht als im Licht des Bewusstseins. Und plötzlich bemerkte ich sie: ein Mädchen mit bäurischen Zügen, schweren, blonden Zöpfen, einem runden Gesicht, üppigen Formen. Es lag ganz in meiner Nähe. Sand bedeckte seine Haut, als es sich auf den Rücken drehte. Dann stand es auf und ging sehr aufrecht mit langsamen, ausholenden Schritten eine hitzeflirrende, staubige Straße ins Land hinein. Die Sonne brannte, und die Zöpfe des Mädchens pendelten auf seinem sandbedeckten Rücken. Ein unglaubliches Sehnen packte mich, süß und schmerzend. Ich wollte ihr nach, aber es gelang mir nicht, mich vom Strand zu erheben. Halb in ihn eingegraben sah ich, wie die Erscheinung im Sommerglast verschwand, bald gänzlich verschluckt von Hitzeschlieren und Staub.
    Heute weiß ich: Dies war meine erste Anwandlung körperlichen Begehrens gewesen. Ich war damals nicht älter als zehn Jahre. Manchmal frage ich mich, ob ich seitdem nicht in jeder Beziehung zu einer Frau vergeblich Anstalten mache, mich vom Strand zu erheben, auf dem ich damals bäuchlings lag, um jener bäurischen Göttin der Lust nachzugehen, die sich, so kommt es mir jedenfalls vor, ein einziges Mal nach mir umdrehte, ehe sie sich in Luft auflöste.
    Und dann träumte ich wieder einmal von John Jakob Boysen, meinem Großonkel, der 1887 im Alter von siebzehn Jahren den Seemannstod starb. Meinen Vater beschäftigte das spurlose Verschwinden seines Onkels, solange ich mich erinnern kann. Oft erzählte er von John Jakob und spekulierte darüber, was geschehen wäre, wenn der Junge nicht auf See geblieben wäre. Mein Vater besaß ein Foto von ihm, eine Daguerreotypie. Sie zeigt einen zarten Jüngling mit breitem Schädel und schmalem Kinn unter einem ausdrucksvoll geschwungenen Mund mit vollen Lippen. Er hat blonde, glatte Haare und dunkle Augen. Ich glaube, er sieht mir ähnlich. Jedenfalls hat das mein Vater immer behauptet.
    Ein heftiger Regenschauer weckte mich. Ich erhob mich und klopfte den Sand aus meinen Kleidern. Mich fror. Ich ging die Treppen hoch in den Ort hinauf. Als ich an einer Telefonzelle vorbeikam, spürte ich, wie so oft in letzter Zeit, das Bedürfnis, meinen Vater anzurufen. Dass er immer noch lebte, kam mir manchmal wie ein Wunder vor. Er war uralt und dennoch geistig völlig klar. Er hatte Krebs, die Ąrzte hatten ihn schon vor zwanzig Jahren aufgegeben, doch er verstand es immer noch vortrefflich, seine Krankheit zur Schärfung seines Geistes zu nutzen wie eine Stütze, die ihm Halt gab.
    Ich schob ein paar Münzen in den Automat und wählte seine Nummer. Es war wie immer: Nachdem es sehr lange geklingelt hatte, hörte ich, wie er abnahm. Zunächst war Stille. Seine Stille. Eine ungeheuer private, eigensinnige, mit niemandem sonst geteilte Stille, die er Tag für Tag und
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