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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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dritten Campari-Soda kam mir der Gedanke, dass es zwei unterschiedliche, ja konträre Lebensstrategien gibt: eine des Eroberns und eine des Verteidigens. Meine Mutter verfügte in einem extremen Maße über die zweite Form. Sie spürte die Schwäche eines Menschen sofort. Mit ihrer destruktiven Phantasie war sie in der Lage, sein eventuelles Scheitern in diesem und jenem Bereich vorauszusehen und, wenn sie wollte, durch Bemerkungen noch zu beschleunigen. Die Tatsache, dass ich mich mit meinen vielen Talenten ein Leben lang in allen möglichen Bereichen verzettelt habe, ohne es je in einem von ihnen zur echten Meisterschaft zu bringen, hängt wohl mit dieser Fähigkeit meiner Mutter zusammen. Sie inspirierte mich auf vielfältige Weise, doch sie vermittelte mir auch immer zugleich die vermeintlichen Grenzen meiner Talente und brachte mich dadurch aus dem Tritt. »Du könntest ein Genie werden«, sagte sie oft, »wenn du endlich einmal konsequent bei einer Sache bleiben würdest.« Das war in höchstem Maße fatal, denn sie hatte gerade wieder einmal durch eine kleine, abschätzige Bemerkung, die zugleich ein übertriebenes Kompliment enthielt, mein Engagement auf einem bestimmten Betätigungsfeld zu Fall gebracht. Heute vermute ich, dass sie ihr eigenes Scheitern als Malerin auf ihren Sohn projizierte. »Du bist zu sensibel für diese grobe Form der Musik«, hatte sie ein andermal gesagt, nachdem ich angefangen hatte, Akkordeon zu lernen. »Du solltest lieber Klavier spielen, du hast die richtigen Finger dafür, mein Sohn.« Das Akkordeon blieb im Kasten. Ein Klavier hatten wir leider nicht.
    Meine Mutter war auch eine Meisterin der Lüge. Die Wahrheit kannte sie nicht oder sie mied sie, als sei sie ein scheußliches Reptil. Mein Vater war das krasse Gegenteil. Er schien in einem Maße der Wahrheit verpflichtet, dass dies fast schon wieder in die Verlogenheit führte. Ich befand mich als Kind hilflos zwischen diesen beiden Gegensätzen. Also drehte ich mich auf der Spitze der Lügen meiner Mutter, getroffen von der Peitschenschnur der Wahrheitsliebe meines Vaters, ein kleiner Brummkreisel, der unverständliche Töne von sich gab und umfallen würde, wenn einst die Schnelligkeit der Rotation nachließ. Erst als meine Mutter tot war, verlor mein Vater seinen übertriebenen Hang zum Realismus, wie er es nannte. Er, der zu Lebzeiten meiner Mutter meist geschwiegen hatte, weil er Reden bereits als Betrug an der Wahrheit empfand und es daher lieber seiner Frau überließ, begann nach deren Tod zu reden, zuerst sporadisch, dann immer häufiger, eine Zeit lang nahezu pausenlos. In seiner Schweigsamkeit sprudelte plötzlich eine Quelle und bildete bald einen Fluss, der übers Ufer trat und Daten, Anekdoten, Geschichten, verrückte Thesen, Fragen, Seemannslatein herbeischwemmte. In diesem Strom bildete seine alte Stummheit kleine Inseln, die zuweilen auftauchten, wenn er aus dem Fenster sah oder mit mir telefonierte, Klippen, an denen sich sein Reden brach.
    Wenn ich ihn besuchte, hörte ich ihm manchmal zu, ohne den Sinn seiner Worte zu beachten. Es war, als säße ich an diesem Fluss, um sein permanentes Rauschen zu bestaunen. Hätte man ihn kanalisiert, begradigt, gestaut, wäre vielleicht so etwas wie ein Roman daraus geworden, so aber glich das Naturschauspiel meines unaufhörlich redenden Vaters eher der Lamentation einer im Käfig der Vergangenheit gefangenen armen Seele.
 
    Ich blickte immer noch hinaus aufs Meer, hob das vierte Glas mit der roten, perlenden Flüssigkeit des Campari-Soda und schaute hindurch wie durch eine getönte Brille in die blasse Scheibe der Sonne, die bereits hoch am Himmel stand. So schuf ich mir meinen eigenen Sonnenuntergang. Gerade als ich gehen wollte, fuhr ein Konvoi von Autos vorbei. Vorneweg ein offener Lieferwagen voller Kränze, dann ein Leichenwagen, durch dessen Fenster man einen schwarzlakkierten Sarg sah, umgeben von brennenden Kerzen, gefolgt von mindestens fünfzehn vollbesetzten PKWs. Keiner der Insassen war dem Anlass gemäß gekleidet. Mädchen in Shorts und knappen T-Shirts, junge Männer in weißen Hosen, offenen bunten Hemden. Es wurde gelacht. Radios plärrten. Das Ganze hätte auch eine Hochzeitsgesellschaft sein können.
    Ich stellte mir vor, der Mann im Sarg sei mein Vater. Ich habe ihn als Kind selten gesehen. Er ist für mich eigentlich immer tot gewesen, ohne dabei je die Fähigkeit zu besitzen, sterben zu können. Dennoch oder gerade darum habe ich ihn bewundert,
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