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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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aufzunehmen. Meine Versuche zu vergessen waren dilettantisch. Immer wieder quälten mich unwesentliche Erinnerungen. Was wesentlich war, entglitt mir, schien jedenfalls nicht deutlich genug und vor allem nicht wahrheitsgemäß. Alles, was ich zusammentrug, glich bunten Abziehbildern, die man ins Poesiealbum des Lebens klebt. Sich absichtlich erinnern ist schwer. Ein mühseliges Unterfangen, ähnlich müßig wie der Versuch, Quecksilberperlen mit den Fingern aufzulesen. Sie zerteilen sich bei der geringsten Berührung und rinnen blitzschnell davon, um in allen möglichen Ritzen zu verschwinden.
    Ich schlief schlecht in jenen Tagen. Da half auch der Rotwein nicht, den ich in großen Mengen trank. So versuchte ich, die Stunde der Wahrheit hinauszuzögern, die Unruhe zu betäuben, die den Archäologen befällt, wenn er sich auf einem Terrain zu befinden glaubt, unter dem die Schätze einer versunkenen Zivilisation liegen. Dabei war ich, ohne es zu wissen, längst dabei, mich meinen Erinnerungen zu stellen und ihre Bruchstücke auszugraben: All diese noch nicht von Grabräubern geplünderten Phantasien, all diese Vasen voller berauschender oder auch vergifteter Augenblicke! Wenn man die frühesten Momente im Leben, an die man sich erinnert, wie die Bruchstücke eines Gefäßes miteinander verkittet, entsteht, wenn man Glück hat, eine unregelmäßige, im Zickzack verlaufende Linie. Sie ähnelt einer geheimnisvollen Schrift und bedeutet, dass die Scherben wenigstens teilweise zusammenpassen. Natürlich klaffen auch große Löcher zwischen ihnen, die signalisieren, dass Teile der Vergangenheit unwiederbringlich verloren gegangen sind. Um die Form der Vase zu erhalten, muss man sie mit grauem Ton ausfüllen. Beim nachträglichen Brennen nimmt er eine rötliche Farbe an, auf der man die verloren gegangenen Muster, so gut es geht, rekonstruieren kann.
    Ich lag oft, erschöpft vom Nichtstun, auf meinem Bett. Die Vorhänge hatte ich zugezogen. Die Schatten der Nacht kamen und gingen. Sie erinnerten an einfache Frauen in schwarzen Kleidern. Sie trugen ihre Träume auf dem Haupt wie durchsichtige Amphoren. Ich vertraute ihnen mehr als den Männern, die die Stille töten mit ihrem Geschwätz. Ich konnte nicht einschlafen. Also versuchte ich wieder einmal, auf dem Ruinenfeld meiner Kindheit zu graben, die wenigen Reste, die ich fand, von der Asche der Zeit zu befreien, die sie bedeckt.
    Auf drei Scherben stieß ich damals immer wieder. Die eine zeigt einen Springtanz weißer, kalter Hagelkörner. Die zweite weist auf ihrer gelblich glasierten Seite endlose Pfützen voller sich weitender, ineinander fließender Kreise auf, jeder einzelne von einem Regentropfen erzeugt. Wie anders ist die dritte Scherbe! Die feste, schwarz behaarte Hand eines Mannes greift aus dem Himmel herab, packt das schreiende Kind und wirft es in die Höhe.
 

 

Kapitel 3
    A ls ich wieder einmal mit schwerem Kopf erwachte, glaubte ich, von meiner Mutter geträumt zu haben. Es war nicht das erste Mal, dass sie mir im Traum erschien. Wie immer konnte ich mich an nichts erinnern, und dennoch zeugten bestimmte, unbeschreibliche Gefühle von einer nächtlichen Wiederbegegnung mit ihr. Beinahe so, als ob noch ein Geruch im Raum schwebte, der von einer Person stammte, die ihn gerade verlassen hatte. Und war dort nicht auch eine Kuhle auf der Bettdecke, den ihr Körper als deutlichen Abdruck hinterlassen hatte?
    Meine Versuche, einen solchen Traum ins Bewusstsein zurückzuholen, scheiterten gewöhnlich. Ich fragte mich, warum ich mich gerade an meine Mutter so schwer erinnern konnte, jedenfalls an die Person, die sie gewesen sein musste, bevor sie alt geworden war. Es kam mir vor, als hätte ich zwei Mütter, eine junge und eine alte. An die alte habe ich sehr deutliche Erinnerungen, sie sehe ich auch jetzt genau vor mir, aber es ist eine andere Frau als meine Mutter in ihren jungen Jahren. Sie hat mit ihr nicht viel mehr gemein als den Namen. Manchmal denke ich, die junge hat mich geboren, die alte hat mich verraten. Das mag zu einfach sein, aber ich litt jedenfalls sehr darunter, dass sich meine junge Mutter meinem Gedächtnis so standhaft entzog. Gäbe es keine Fotos von ihr, ich wüsste nicht einmal, wie sie ausgesehen hat. Sie muss eine ungewöhnliche Schönheit gewesen sein - mit ihren rotblonden Haaren, den rehbraunen Augen, der hochgewölbten Stirn, den fein gezogenen Brauen und der schmalen, geraden Nase. Ein Madonnengesicht, das den Eindruck einer
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