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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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undefinierbaren Lebensfrömmigkeit vermittelte.
    Vierzehn Jahre lebte ich in übergroßer Nähe zu ihr, war ein Teil von ihr, fühlte mich in ihrer Obhut geborgen. Sie umgab mich mit ihrer Liebe, ihrer Fürsorge, ihren Meinungen, ihrem Duft, ihrem Körper und vor allem aber mit ihren Inszenierungen, die sie meisterhaft beherrschte. Sie konnte aus jedem Essen, selbst als es im Krieg kaum mehr etwas gab, eine Art Galadiner machen, oft nur durch die Dekoration des Tisches und die Begleitmusik aus dem Radio. Immer schuf sie für mich ein wärmendes Nest, in dem ich als das Kuckucksei lag, das ich nur ungern und spät von innen aufzupicken unternahm, wohl ahnend, dass dieser hässliche Vogel nach seinem Schlüpfen von den übrigen Nestinsassen als Fremdling erkannt werden würde.
    Wir spielten damals wahrscheinlich jeden Tag das gleiche Stück: Ich war der Prinz, und meine Mutter verkörperte alle anderen Rollen. Sie war Prinzessin, Königin, König, gute und böse Fee, Zauberer, Herold, Narr, das Volk. Möglicherweise kann ich mich deshalb nicht an meine Mutter erinnern, weil sie zu viele Rollen hatte und mir gleichzeitig zu nahe war, so wie etwas in seinen Konturen verschwimmt, wenn man es zu dicht an die Nase hält. Doch werde ich nicht aufgeben. Ich werde bis an mein Lebensende versuchen, mich dieser fremden Frau, ihres Gesichts, ihres Lächelns, ihrer Gestalt zu vergewissern, bis ich mich an mehr erinnere als an den Fetzen eines Kattunkleides, eine goldene Haarlocke, ein braunes Rehauge oder eine himbeerfarbene Brustwarze.
 
    Das Badeviertel der Stadt beginnt an ihrem nördlichen Fuß und erstreckt sich einige Kilometer die Küste entlang. Im Sommer drängen sich hier die Kurgäste. Es ist dann laut und für meinen Geschmack unerträglich. In der Nachsaison sind die Strände dagegen leer; die Spuren des sommerlichen Badetriebs sind jedoch noch überall vorhanden. Ich liebe diese Zeit, in der es noch warm ist, die meisten Fremden aber abgefahren sind, weil sie irgendwo ein ordentliches, von Pflichten und Beziehungen bestimmtes Leben führen müssen. Jetzt werden die Straßenkehrer plötzlich zu Hauptpersonen. Mit ihren Besen gleichen sie Künstlern, die ihre kühnen Kompositionen mit den Borsten ihres Pinsels auf die Promenade tupfen.
    Die meisten Lokale haben schon geschlossen. Heruntergelassene Jalousien verbreiten eine Stimmung von Unweigerlichkeit. Am Strand werden Schirme und Liegestühle abgebaut. Die braungebrannten jungen Männer, die damit beschäftigt sind, wirken so konzentriert und entschlossen bei ihrer Arbeit, dass man meinen könnte, sie würden am liebsten auch das Meer zusammenrollen und in einem der Bauwagen verstauen, in denen sie ihre Gerätschaften aufbewahren.
    Auch die See ist in der Nachsaison verändert. Sie wirkt entspannt, befreit, ein wenig wie ein entlassener Sträfling, der, zum ersten Mal wieder in Freiheit, einen blauen, ungebügelten Anzug trägt. Sie hat noch nicht die Wildheit der Herbststürme, aber sie spielt mit ihren Wellen bereits so, dass man ahnen kann, welche Kraft in ihnen steckt.
    Hätte ich nicht einen großen Teil meiner Kindheit und Jugend auf einer Nordseeinsel verbracht, ich wäre kaum empfänglich für die unnachahmliche Melancholie der Nachsaison. Am besten lässt sich ihre Atmosphäre in einem der wenigen Cafees erleben, die noch betrieben werden. Die Tür steht offen, die Plastikstreifen des Vorhangs wehen in der Seebrise auseinander und geben den Blick frei auf das Meer. Die Geräusche der Kaffeemaschine, der halbvollen Gläser, die die wenigen Morgentrinker vorsichtig, fast schuldbewusst auf die Marmorplatte des Tresens stellen, die halb gemurmelten Banalitäten, all das fügt sich zu einer angenehmen Geräuschkulisse, die nicht die Anstrengung des Zuhörens verlangt. Der Mann an der Bar reibt Gläser mit einem Tuch und blickt prüfend durch sie hindurch wie ein Astronom, der den Nachthimmel liebt. Ich bestelle einen Campari-Soda, denn ich mag dieses Getränk, weil in ihm Süße und Bitterkeit unversöhnt geblieben sind.
    Ich liebe die Nachsaison. Auch die des Lebens. In meinem Alter hat sie begonnen. Ich liebe sie genauso wie jenes bittersüße Getränk, denn jetzt vergeht nicht mehr mein Leben, sondern nur noch meine Zeit. Ich entsinne mich eines dieser Momente in einer Strandbar, die noch nicht geschlossen war. Ich versuchte nachzudenken. Ein komplizierter Zustand, wenn einem nach nichts anderem zumute ist als nach den Wohltaten eines leeren Augenblicks. Beim
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