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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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durchdringen sich unaufhörlich. Als das Kind den Blick nach oben richtet, sieht es die Wolken auf ihren prallen Bäuchen über einen bleifarbenen Himmel rutschen. Das Kind kriecht auf dem Teppich herum. Dann zieht es sich an den Beinen des kleinen Tischchens hoch und erblickt seltsame Dinge. Windmühlen, Wellen, das Meer, Segel, einen kleinen Jungen, der auf einem Hügel steht und aufs Meer hinaus deutet. Das Kind weiß nicht, dass es Delfter Kacheln sind. Es hat Angst, in die Bilder hineinzufallen, und beginnt zu weinen. Dann kommt ein Kinderwagen. Vor den Augen des Kindes sind bunte Kugeln auf Drähten. ܜber ihm ein Himmel, über den ständig neue Baumkronen ragen. Hin und wieder das Gesicht einer Frau mit blonden Haaren, zu einem Zopf geflochten und auf dem Kopf zusammengeringelt. Ihre Stimme spricht vom Himmel herab immer wieder Zahlen: »Eins, zwei, drei, vier.« Das Kind sagt: »Einszweivierdrei.« »Nein«, sagt die Stimme, es muss heißen: »Eins, zwei, drei, vier.« Das Kind sagt: »Einszweivierdrei.«
    Weiße Hagelkörner prasseln auf ein Fenstersims und springen davon. Eine kleine Hand greift hinein in diesen Wirbel und fängt ein, zwei eisige Perlen. Als das Kind eine in den Mund steckt, schmeckt es den faden Schneegeschmack. Kalte Bälle liegen auf einem Schlitten aus Eisen mit einem roten Geländer. Das Kind nimmt einen Ball und leckt an ihm, dann wirft es ihn fort in den Schnee. Das Mädchen nimmt den Schneeball und gibt ihn dem Kind zurück. Der Schneeball ist größer geworden.
    Im Sommer kommt ein Mann aus dem Krieg. Er trägt eine weiße Hose und ein Hemd aus Zucker. Er riecht nach Seife und hebt das Kind aus dem Kinderbett. Die Sonne brennt.
    Sie sitzen zu dritt auf der Veranda im Schatten. Es ist warm. Aus einem glänzenden Kasten kommen gelb-braun gestreifte Scheiben Brot. Die Butter zerfließt auf ihnen, und der Honig bildet Muster.
    Aus einem anderen Kasten kommt eine schöne Stimme. Die Eltern lächeln, und man hört die Maikäfer summen. Das Kind beobachtet eine Ameise, die im ausgelaufenen Honig zappelt. Dann ein Knacken im Radio und plötzlich eine andere Stimme: Quelle Siegfried Sieben, Quelle Siegfried Sieben. Eine verzerrte, hässliche Stimme, die diese Wörter immer wieder spricht. Die Mutter des Kindes springt auf und beginnt, den Tisch abzudecken. Der Mann blickt ernst und streicht seinem kleinen Sohn über die dünnen, weißblonden Haare. »Quelle Siegfried Sieben, das ist unser Planquadrat. Sie greifen wieder an. Bald wird es Fliegeralarm geben. «
    Dann wird es dunkel, denn der Vater hat das Kind in den Keller getragen. Es liegt auf einer Matratze, klein und voller Angst; es ist kaum größer als sein Herz, das heftig schlägt. Die Mutter breitet eine Wolldecke über seinen Körper. Als die Bomben fallen, ist es, als ob jemand pfeift und dann mit beiden Füßen im Ohr des Kindes landet. Die Marmeladengläser im Regal zittern.
    Die Bombentrichter im Garten sind voll gelbem Wasser. Froschlaich schwimmt darin. Auf dem Boden in der Nähe der Verandatür liegt ein großes, breitgequetschtes Monstrum. Dazu ein schriller Schrei. Die Mutter hat eine Hornisse zertreten. Später dann sieht das Kind die Mutter in einem anderen Garten in der Sommersonne stehen. Es ist ein sehr heißer Tag. Die Mutter bückt sich und richtet sich wieder auf. Wieder und wieder. Sie trägt ein buntes Kleid mit halblangen Ąrmeln. Unter den Achseln haben sich große, dunkle Flecken gebildet. Manchmal ruft die Mutter das Kind zu sich und gibt ihm eine rote Erdbeere in den Mund. Die Frucht fühlt sich rau an, ehe sie süß wird, wenn das Kind sie mit der Zunge zerdrückt. Es riecht den Staub und den Schweiß. Beides riecht ähnlich. Am besten riecht es den Staub, wenn es hinter der Hecke steht und in den warmen Sand pinkelt. Das Kind ist nackt, und das warme gelbe Rinnsal fließt um seine Füße. Die Zehen bewegen sich, bis brauner Matsch zwischen ihnen hoch quillt.
    Durch die Hecke beobachtet das Kind, was der Mann macht, der auf der anderen Straßenseite an einer Laterne lehnt. Er hat ganz weiße Zähne, die lachen. Er lehnt das Gewehr an den Zaun und ruft: Mami strawberry. Mami strawberry. Die Mutter geht zum Zaun. Der Soldat überquert die Straße, und die Mutter gibt ihm eine Hand voll roter Erdbeeren. Der Soldat nimmt sie und lacht, und dann sind seine weißen Zähne plötzlich rot. Er fasst über den Zaun, legt seine Hände um ihre Arme und hebt sie hoch. Sein Gesicht verschwindet in dem Gesicht der
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