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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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seine Erika in letzter Zeit fleißiger denn je. Er hatte vor Jahren damit begonnen, eine Familienchronik zu schreiben. Unter Familie verstand er allerdings nur die männliche Linie, also die, die den Namen von Generation zu Generation weitergibt. Zuweilen schickte er mir schlecht lesbare Durchschläge. Die €›o€‹s ausgestochen, die €›e€‹s verschmiert und etliche andere Buchstaben aus der Reihe tanzend.
    Ich musste zugeben, dass er seinen Kampf gegen das Vergessen bravourös führte. Seine Texte waren zumeist trocken und nur an Fakten orientiert, so wie er es vom Führen eines Schiffstagebuchs gewöhnt war. Aber die Diktion dieser langen Sätze schwang dennoch volltönend und harmonisch wie der Klang einer Schiffsglocke im Nebel. Vielleicht wäre er ein besserer Schriftsteller geworden als ich, wenn sein Lebensweg anders verlaufen wäre. Joseph Conrad war sein Lieblingsschriftsteller, und das merkte man. Die Texte meines Vaters klangen, als stammten sie von einem Bruder des großen Autors, der Buchhalter geworden war. Zuweilen verließ er in letzter Zeit jedoch das lineare Nacherzählen der Familiengeschichte, brach aus dem Gefängnis der Jahreszahlen, Namen und Fakten aus und begann zu räsonieren. Reflexionen über das Leben, die Zeit, den Begriff des Schicksals. Naive Texte, doch in ihrer verblüffenden Klarheit und bohrenden Fragestellung wirkten sie wie inspiriert von einer kindlichen Neugier, um die ich ihn nur beneiden konnte.
    Ich hatte die Erika gekauft, weil ich hoffte, besser mit meinem Romanprojekt zurechtzukommen, wenn ich nicht den Laptop, sondern die alte Schreibmaschine benutzte. Allein der mechanische Widerstand, den sie meinen Formulierungen entgegensetzte, mochte sich positiv auswirken auf mein Vorhaben. Ich spannte also ein Blatt Papier in die Maschine und prüfte noch einmal sämtliche Lettern und Zeichen. Dann schloss ich die Augen und versuchte, mich auf den Anfang des Romans zu konzentrieren, den ich schreiben sollte. €›Ein Piratenroman mit Tiefgang€‹, wie es mein Verleger in seiner burschikosen Art formuliert hatte. Ich stellte mir eine weite Bucht vor, eine Sichel aus weißem Sand. ܜber ihr wölbte sich ein hoher, wolkenloser Himmel, dessen fahle Farbe wie eine dünne Lasur von Smalte auf die Schwärze des Weltalls aufgetragen schien. Das Meer glich einem dünnen Tuch aus japanischer Seide, das wie eine waagrechte Fahne in einem Wind flatterte, der in der Tiefe wehte. Weit draußen lag ein Schiff vor Anker, ein Dreimaster, eine Bark der Besegelung nach. Ich beobachtete, wie ein Boot zu Wasser gelassen wurde. In ihm saß ein einzelner Mensch. Man sah nur seinen Rücken, seinen Hinterkopf, denn er ruderte auf den Strand zu. Näher und näher kam das Boot, doch plötzlich schien es auf der Stelle zu verharren, ganz so, als sei es auf Grund gelaufen, obwohl jener Mensch immer noch aus Leibeskräften ruderte. Er wandte den Kopf, und ich sah, dass es ein Junge war. Er hatte blonde Haare, ein fliehendes Kinn und war von schmächtiger Gestalt.
    Ich öffnete die Augen und versuchte, das innerlich Geschaute dem Blatt Papier anzuvertrauen. Vergeblich, denn es entstanden nur holprige Sätze, die das nicht wiedergaben, was ich gesehen hatte. Vielleicht musste ich mir mehr Zeit lassen, vielleicht erst den ständigen Konflikt zwischen Erinnern und Vergessen lösen, der mich seit Wochen so sehr lähmte. Ich nahm mir daher endgültig vor, in nächster Zeit den verwunschenen Park meiner Vergangenheit zu betreten. Vorsichtig und behutsam, ohne Pflanzen zu knicken, ohne Blumen zu zertreten. Wie sollte ich denn, sagte ich mir, ein Piratenleben aus einem längst vergangenen Jahrhundert erfinden können, wenn mir schon mein eigenes Leben verschlossen blieb wie ein Buch mit sieben Siegeln?
    Ich begann meine Arbeit damit, eine Liste der Momente aufzustellen, die mir besonders eindringlich in Erinnerung geblieben waren. Der erste Hagel, der erste Regen, die Kiste mit Puderzucker, die zerquetschte Hornisse, der Mann im Radio, die Tage und Nächte in einem angeblich bombensicheren Keller und andere Impressionen aus der frühen Kindheit.
    Ich starrte die Erika an. Ihre Schwärze animierte mich, die Augen zu schließen. Ich musste eingeschlafen sein. Denn als ich aufwachte, lag mein Kopf auf der Maschine. Ich erinnerte mich dunkel an einige Bilder, die ich geträumt hatte. *
    Es regnet, rauscht und gluckst. Braunes Wasser bedeckt die Erde bis zum Horizont. Die Kreise auf dem Wasser wachsen und
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