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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner
Autoren: Graham Greene
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mein Telegramm ab und kehrte wieder zu ihr zurück. Das Ganze war nicht mehr als eine Geste: Ich wußte nur zu gut, daß die französischen Korrespondenten wohl über den Fall bereits informiert waren; falls aber Vigot sich fair benommen hatte (was durchaus im Bereich des Möglichen lag), dann würde die Zensur mein Telegramm so lange zurückhalten, bis die Franzosen ihre eigenen Meldungen eingereicht hatten. Meine Zeitung würde die Nachricht zuerst aus Paris erhalten. Nicht, daß Pyle besonders wichtig war. Es wäre nicht angegangen, die Einzelheiten seiner wahren Laufbahn zu kabeln, etwa, daß er vor seinem gewaltsamen Ende für den Tod von mindestens fünfzig Menschen verantwortlich war. Denn dies hätte die britisch-amerikanischen Beziehungen getrübt, und der Gesandte wäre höchst bestürzt gewesen. Der Gesandte war von großer Hochachtung vor Pyle erfüllt – Pyle hatte seine Studien mit gutem Erfolg abgeschlossen, in – nun, in einem jener Fächer, die man in Amerika eben studieren kann: vielleicht Public Relations oder Theaterwissenschaft, vielleicht sogar Ostasienkunde (er hatte darüber eine Menge Bücher gelesen).
    »Wo ist Pyle?« fragte Phuong. »Was wollte die Polizei?«
    »Komm heim«, sagte ich.
    »Wird Pyle kommen?«
    »Es ist so wahrscheinlich, daß er dorthin kommt wie irgendwohin anders.«
    In der verhältnismäßig kühlen Luft des Treppenhauses klatschten noch immer die alten Weiber. Als ich meine Tür öffnete, erkannte ich sofort, daß mein Zimmer durchsucht worden war: Alles war ordentlicher, als ich es jemals verlassen hatte.
    »Noch eine Pfeife?« fragte mich Phuong.
    »Ja.«
    Ich legte die Krawatte ab und zog die Schuhe aus; das Zwischenspiel war vorüber, die Nacht beinahe so, wie sie vordem gewesen war. Phuong hockte am Ende meines Betts und zündete die Lampe an. Mon enfant, ma sœur – die Haut mit der Farbe von Bernstein. Sa douce langue natale.
    »Phuong«, sagte ich. Auf dem Pfeifenkopf knetete sie jetzt das Opium. »Il est mort, Phuong.« Sie hielt die Nadel in der Hand und blickte zu mir empor, stirnrunzelnd wie ein Kind, das seine Gedanken zu sammeln trachtet. »Tu dis?«
    »Pyle est mort. Assassiné.«
    Sie legte die Nadel weg, setzte sich zurück auf die Fersen und starrte mich unverwandt an. Es gab keine Szene, keine Tränen, nur Gedanken – die langen, in sich gekehrten Gedanken eines Menschen, der seinen ganzen Lebensweg ändern muß.
    »Bleib heute nacht lieber hier«, sagte ich.
    Sie nickte, nahm die Nadel wieder zur Hand und begann das Opium zu erhitzen. In dieser Nacht erwachte ich aus einer jener Perioden tiefen Opiumschlafs, die nur zehn Minuten dauern und dennoch den Eindruck einer vollen Nachtruhe hinterlassen, und bemerkte, daß meine Hand dort lag, wo sie nachts immer gelegen hatte: zwischen ihren Beinen. Sie schlief, und ihr Atem war kaum zu hören. Wieder einmal war ich nach vielen Monaten nicht allein; und dennoch, als mir Vigot in den Sinn kam, mit dem grünen Schirm über den Augen, im engen Polizeirevier, und die stillen, menschenleeren Gänge in der Gesandtschaft, und als ich die weiche, unbehaarte Haut unter meiner Hand spürte, da dachte ich plötzlich zornig: »Bin ich der einzige, dem Pyle wirklich etwas bedeutete?«

Zweites Kapitel
     

1
     
    An dem Vormittag, als Pyle auf dem Platz vor dem Hotel Continental auftauchte, hatte ich genug vom Anblick meiner amerikanischen Kollegen von der Presse; sie waren groß, dick, laut, kindisch und mittleren Alters, stets mit faulen Witzen über die Franzosen zur Hand, die letzten Endes diesen Krieg ausfochten. In gewissen Abständen – sooft ein Gefecht säuberlich beendet und die Gefallenen vom Schlachtfeld entfernt worden waren – wurden sie alle nach Hanoi gerufen, über eine Flugstrecke von beinahe vier Stunden, dort vom Oberstkommandierenden empfangen und für eine Nacht im Presse-Camp einquartiert, von dem sie prahlten, es gebe dort den besten Barmixer in ganz Indochina; dann wurden sie im Flugzeug in tausend Meter Höhe (gerade über der Reichweite eines schweren Maschinengewehrs) über das jüngste Kampfgelände geführt und schließlich sicher und geräuschvoll, wie nach einem Schulausflug, wieder vor dem Hotel Continental in Saigon abgesetzt.
    Pyle war ruhig, er wirkte bescheiden, an jenem ersten Tag mußte ich mich von Zeit zu Zeit vorbeugen, um überhaupt zu verstehen, was er sagte. Und er war sehr, sehr ernst. Mehrmals schien er bei dem Lärm, den die amerikanischen Presseleute auf der
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