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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner
Autoren: Graham Greene
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interessierte auch ich mich für das, was man mangels eines besseren Ausdrucks als Neuigkeit bezeichnet. Aber Handgranaten hatten ihre Wirkung auf mich verloren; sie wurden nur noch auf der letzten Seite des Lokalblättchens vermerkt – so viele in der vergangenen Nacht in Saigon, und so viele drüben in Cholon. Den Weg in die europäische Presse fanden sie überhaupt nicht mehr. Die Straße herab kamen die schönen, schmalen Gestalten in weißen Seidenhosen, langen, enganliegenden Jacken mit rosa oder lila Mustern, seitlich bis zum Oberschenkel hinauf geschlitzt: Ich betrachtete sie mit jenem Gefühl des Heimwehs, von dem ich damals schon wußte, daß ich es dereinst empfinden würde, wenn ich diese Regionen für immer verlassen hätte. »Wunderschön sind sie, nicht wahr?« sagte ich über mein Bier hinweg, und Pyle schenkte ihnen einen flüchtigen Blick, während sie die Rue Catinat hinaufschlenderten.
    »Oh gewiß«, antwortete er gleichgültig. Er war einer von der ernsten Sorte. »Unser Gesandter macht sich wegen dieser Handgranaten große Sorgen. Es wäre sehr peinlich, sagt er, wenn es einen Zwischenfall gäbe – mit einem von unseren Leuten, meine ich.«
    »Mit einem von Ihnen? Ja, ich glaube, das wäre eine ernste Angelegenheit. Dem Kongreß würde das bestimmt nicht gefallen.« Weshalb überkommt einen die Lust, die Unerfahrenen zu hänseln? Vor zehn Tagen war er vielleicht noch über das Common, den Park im Herzen Bostons, geschritten, die Arme voll Bücher, die er zu seiner Vorbereitung über den Fernen Osten und die Probleme Chinas gelesen hatte. Er hörte gar nicht, was ich sagte; so beschäftigt war er bereits mit den Zwangsentscheidungen der Demokratie und der Verantwortung des Westens. Er war – das sollte ich sehr bald erfahren – fest entschlossen, Gutes zu tun, nicht einem einzelnen Menschen, sondern einem Land, einem Kontinent, einer Welt. Nun, jetzt war er in seinem Element, und das ganze Universum stand ihm für seine Weltverbesserungspläne offen.
    »Liegt er in der Leichenhalle?« fragte ich Vigot.
    »Woher wußten Sie, daß er tot ist?« Das war eine alberne Frage aus dem Munde eines Polizisten, unwürdig eines Mannes, der Pascal las, und ebenso unwürdig eines Mannes, der seine Frau in so seltsamer Weise liebte. Ohne Intuition kann man nicht lieben.
    »Ich bekenne mich nicht schuldig«, erklärte ich und sagte mir, daß dies der Wahrheit entsprach. War Pyle nicht stets seine eigenen Wege gegangen? In meinem Herzen forschte ich nach irgendeinem Gefühl, und sei es Unwillen über den Argwohn eines Polizeibeamten, doch ich konnte keines entdecken. Niemand außer Pyle selbst war für das Geschehene verantwortlich zu machen. »Wäre es nicht für uns alle besser, wir wären tot?« argumentierte das Opium in mir. Aber ich warf einen verstohlenen Blick auf Phuong, denn für sie war es hart. Sie mußte ihn auf ihre Art geliebt haben: hatte sie mich nicht gern gehabt und mich dennoch Pyles wegen verlassen? Sie hatte sich an die Jugend, die Hoffnung und die Ernsthaftigkeit angeschlossen, und jetzt hatten jene sie ärger im Stich gelassen als Alter und Verzweiflung. Sie saß da und betrachtete uns beide; offenbar hatte sie es noch nicht begriffen. Ich überlegte, daß es vielleicht gut wäre, wenn ich sie von hier wegbrächte, bevor ihr das Geschehene zu Bewußtsein kam. Also war ich bereit, alle Fragen zu beantworten, falls ich die Vernehmung zu einem raschen und zweideutigen Ende bringen konnte, um ihr erst später unter vier Augen, nicht unter dem scharfen Blick des Kriminalisten, und fern von den harten Bürostühlen und der ungeschützten grellen Lampe, um die die Nachtfalter taumelten, alles mitzuteilen.
    »Über welche Stunden wünschen Sie Aufklärung?« sagte ich zu Vigot.
    »Über die Zeit zwischen sechs und zehn.«
    »Um sechs Uhr nahm ich im ›Continental‹ einen Drink. Die Kellner werden sich daran erinnern. Um sechs Uhr fünfundvierzig ging ich an den Kai hinunter, um zuzusehen, wie die amerikanischen Flugzeuge ausgeladen wurden. Am Eingang des ›Majestic‹ traf ich Wilkins von der ›Associated News‹. Dann ging ich nebenan ins Kino. Dort wird man sich wahrscheinlich erinnern – sie mußten mir eine größere Banknote wechseln. Vom Kino weg fuhr ich in einer Rikscha zum ›Vieux Moulin‹ – ich kam schätzungsweise um acht Uhr dreißig an und aß allein mein Dinner. Granger war dort – Sie können ihn fragen. Um ungefähr Viertel vor zehn fuhr ich in einer Rikscha nach
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