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Der Stein - Hohler, F: Stein

Der Stein - Hohler, F: Stein

Titel: Der Stein - Hohler, F: Stein
Autoren: Franz Hohler
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dem Esstisch noch ein kleines Tischchen mit einem Rohrstuhl und einem durchgehockten Sofa. Auf dem Rohrstuhl saß Balz jetzt, das leere Schnapsglas neben sich, und schaute zum Fenster hinaus.
    Draußen schneite es, und es gefiel ihm, in den grauen Himmel zu blicken, aus dem die weißen Flocken wirbelten.
    Gestern Abend, als er angekommen war, hatte er noch weit ins Tal hinuntergesehen, dazu auf eine Reihe von Berggraten und -gipfeln in der Nähe, und auf eine verwirrliche Anzahl davon in der Ferne, die in der Dämmerung langsam ineinander verflossen. Aber schon am Morgen waren träge Wolken das Tal heraufgekrochen und blieben nun an den Abhängen über dem Dorf liegen, und vor die Sicht talabwärts und in die Weite hatte sich ein undurchdringlicher diesiger Vorhang gelegt.
    Balz war nicht unglücklich darüber. Er war nicht hierhergekommen,
um Skitouren zu machen oder Wintersport zu treiben, er brauchte keinen Blick in die Ferne, er brauchte einen Blick nach innen. Nachdenken wollte er über sein bisheriges und über sein zukünftiges Leben, deshalb hatte er sein Notebook mitgenommen. Gestern Abend hatte er es schon mal aufgeklappt und ein Dokument mit dem Titel »Mein Leben« eröffnet, war aber über den ersten Satz »Geboren vor vierzig Jahren am Dreikönigstag« nicht herausgekommen. Dieser Satz hatte ihn so lange angestarrt, bis er ihn wieder gelöscht und das Notebook zugeklappt hatte.
    Heute lag ein Block mit einem Kugelschreiber auf dem Tischchen. Ein Blatt Papier war nicht halb so fortsetzungshungrig wie ein Bildschirm. Aber wo sollte er anfangen?
    Über seine Geburt wusste er wenig, außer dass er im Spital, in dem er zur Welt gekommen war, das erste Kind am Dreikönigstag gewesen war, morgens um ein Uhr. Seine Mutter hatte sich gefreut darüber, hatte ihn manchmal im Scherz auch »mein Königskind« genannt, worüber sich seine ältere Schwester immer geärgert hatte. »Und ich?« hatte sie jeweils gefragt, und es war dann der Vater, der sie mit den Worten »Du bist unsere Prinzessin« getröstet und auf seine Knie genommen hatte.
    Wieder fröstelte ihn. Er ging zum Kachelofen und legte zwei schöne, runde Hölzer nach, dann holte er nochmals den Kräuterschnaps, goss sich einen winzigen Schluck ins leere Glas und trank es sofort aus.
    Seine Schwester hatte ihn heute aus Australien auf seinem
Handy angerufen und ihm zum Geburtstag gratuliert. Sie war mit ihrem Mann dorthin ausgewandert. »Welcome to the club!«, hatte sie zu ihm gesagt. Sie war zweiundvierzig und hatte zwei Söhne.
    Er war vierzig und hatte keine Kinder. Soweit er sich zurückerinnern konnte, hätte er immer lieber einen Bruder gehabt als eine Schwester. Warum, wusste er nicht.
    Er nahm seinen Block, schrieb auf das erste leere Blatt das Wort »Schwester« und versah es mit einem Fragezeichen. Dann fand er das so lächerlich, dass er das Blatt abriss und zerknüllte. Nachdenken war schwieriger, als er gedacht hatte.
    Seine Eltern hatten sich kurz vor Mittag gemeldet. Seit sie pensioniert waren, flogen sie an Neujahr immer für einen Monat auf die Kanarischen Inseln. Sie hatten gemeinsam »Happy birthday« ins Telefon gesungen und ihm dann lachend alles Gute gewünscht. Sie waren zufrieden, unverschämt zufrieden geradezu.
    Er war nicht zufrieden. Und eigentlich hätte er gern gewusst, warum, deshalb war er hierhergekommen.
    Wo waren denn die Brüche in seinem bisherigen Leben?
    Gymnasium, Studium der Rechte, zuerst Richter, dann Jurist in einer großen Versicherungsgesellschaft. Versuch, das elterliche Zweierglück durch Heirat mit einer spanischstämmigen Studienkollegin nachzuahmen, misslungen, Scheidung nach fünf Jahren.
    Er nahm nochmals den Block auf die Knie und schrieb
die Worte »Eltern? Beruf? Heirat?« weit auseinander und umzog sie nach einer Weile mit Kreisen.
    Als er den Zettel zerriss, hörte er den Gesang.
    Männerstimmen waren es, die wohl unten im Dorf sangen, langsam und getragen, aber nach einer Weile merkte er, dass sie näher kamen. Er stand auf und hatte das Gefühl, das Steißbein sei ihm eingeschlafen. Hatte er so lang gesessen? Er ging zum Fenster.
    Das Schneetreiben war dichter geworden, die Konturen der Häuser undeutlicher, und durch die Flockenwirbel schritten drei Gestalten in langen Gewändern, mit Königskronen auf ihren Häuptern, der Vorderste in einem roten Mantel mit weißem Pelzbesatz und einem langen goldglänzenden Stab, der Zweite in einem blauen Mantel mit braunem Pelzkragen, und der Dritte trug
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