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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder
Autoren: Nicci French
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während der Pause vereinbart, und erteilte mir die Erlaubnis, der Lehrerversammlung fernzubleiben.
    Natürlich nur, wenn mir das recht sei. Außerdem hatte sie die Schulsekretärin gebeten, eine weitere Melone zu besorgen.

    Ich ging davon aus, dass die Sache damit ein Ende haben würde. Es verwirrte mich, welche Eigendynamik eine solche Geschichte entwickeln konnte. Ich erkannte die Frau kaum wieder, die am nächsten Tag mit einer riesigen Wassermelone im Arm auf einer Innenseite der Daily Mail zu sehen war und über deren Foto eine dicke Schlagzeile prangte. Mit ihrem vorsichtigen Lächeln und dem hellen Haar, das sie sich ordentlich hinter die Ohren geschoben hatte, sah sie mir überhaupt nicht ähnlich, und ihre Äußerungen klangen erst recht nicht nach mir. Gab es auf der Welt denn nicht genügend echte Nachrichten? Auf der nächsten Seite stand ganz unten ein sehr kleiner Artikel über ein Busunglück in Kaschmir: Der Bus war von einer Brücke gestürzt und hatte dabei eine große Zahl von Menschen in den Tod gerissen. Vielleicht hätten sie dem Unglück mehr Platz eingeräumt, wenn eine blonde, dreiundzwanzigjährige britische Lehrerin an Bord gewesen wäre.
    »Blödsinn!«, meinte Fred, als ich ein paar Stunden später diese Vermutung äußerte. Wir genehmigten uns gerade eine Portion essigdurchweichte Pommes, nachdem wir zuvor in einem Film gewesen waren, in dem mit beachtlichen Bizepsen ausgestattete Männer einander mit Kinnhaken traktiert hatten. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Du hast dich wirklich wie eine Heldin verhalten. Du hattest einen Sekundenbruchteil Zeit, dich zu entscheiden, und du hast die richtige Entscheidung getroffen.« Er berührte mit seiner schlanken, schwieligen Hand mein Kinn. Ich hatte den Eindruck, dass er statt meiner die Frau mit dem schmalzigen kleinen Lächeln aus der Zeitung vor sich sah. Er küsste mich. »Manche Leute werden zu Helden, indem sie sich auf eine Granate werfen. Du hast es mit einer Wassermelone geschafft, das ist der einzige Unterschied. Lass uns zu dir gehen, ja? Es ist noch gar nicht spät.«
    »Ich hab einen ganzen Stapel Hausaufgaben zu korrigieren.«
    »Bloß ein Stündchen.«
    Er kippte den Rest unserer Pommes in eine bereits überquellende Tonne, wich einem Haufen Hundescheiße mitten auf dem Gehsteig aus und legte seinen langen Arm um meine Schulter. Obwohl die ganze Stadt nach Abgasen, Kebab und Pommesfett stank, stieg mir Freds typischer Geruch nach Zigaretten und frisch gemähtem Gras in die Nase. Er hatte die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt, sodass ich seine zerkratzten, aber schön gebräunten Unterarme sehen konnte. Ein paar Strähnen seines hellen Haars hingen ihm über die Augen. Trotz der schwülen Hitze des Abends fühlte er sich angenehm kühl an. Ich konnte nicht widerstehen.

    Fred war mein neuer Freund, oder zumindest meine neue Liaison. Vielleicht waren wir gerade am perfekten Zeitpunkt angelangt. Die schwierige, peinliche erste Phase hatten wir bereits hinter uns: die Phase, in der man sich vorkommt wie ein Komiker, der vor ein anspruchsvolles Publikum tritt und verzweifelt auf dessen Lachen und Applaus hofft. Bloß, dass Lachen in diesem Fall das Letzte war, was man gebrauchen konnte. Andererseits waren wir noch weit von der Phase entfernt, in der man in der Wohnung herumläuft und nicht mal mehr registriert, dass der andere nichts anhat.

    Fred hatte den Großteil des Jahres als Gärtner gearbeitet und war dadurch drahtig und sehnig geworden. Man konnte das Spiel der Muskeln unter seiner Haut sehen. An den Unterarmen, am Hals und im Gesicht war er braun gebrannt, aber Brust und Bauch hatten eine blasse, fast milchweiße Farbe.
    Wir waren auch noch nicht in die Phase eingetreten, in der jeder einfach seine Sachen auszieht, ordentlich zusammenfaltet und dann routinemäßig über einen Stuhl legt. Als wir in meiner Wohnung ankamen – aus irgendeinem Grund landeten wir immer in meiner Wohnung –, hatten wir es nach wie vor ziemlich eilig, einander in die Finger zu kriegen. Verglichen damit, erschien alles andere nicht mehr so wichtig. Wenn meine Schüler beim Nachmittagsunterricht besonders zappelig waren und mich die Hitze müde und lustlos machte, dachte ich manchmal an Fred und den vor uns liegenden Abend, was meine Stimmung sofort besserte.
    Hinterher zündeten wir uns eine Zigarette an. Während wir in dem kleinen Schlafzimmer lagen und Musik hörten, hupten unten auf der Straße die Autos. Jemand schrie: »Du
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