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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder
Autoren: Nicci French
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weiteren Ball suchte.
    »Und das war’s?«, fragte er lächelnd.
    »Wenn es leichter wäre, dann würde es ja jeder machen.«
    »Nein, es war großartig«, sagte er und begann lauthals zu lachen. Vielleicht war das mein Geschenk an Josh und zugleich mein Abschied: Nadia, die Närrin, die als einzige nicht gestorben war und in einem dunklen kleinen Café Bälle durch die Gegend warf. Ein Kichern – oder vielleicht war es auch ein Schluchzen – stieg in mir auf.
    Ich nahm die Bälle und verstaute sie wieder in der Tasche.
    »Ich muss allmählich aufbrechen«, sagte ich.
    »Ich auch.«
    Nachdem wir uns an der Tür des Cafés mit zwei Küsschen auf die Wange verabschiedet hatten, traten wir in die eisige Kälte hinaus. Bevor wir in entgegengesetzte Richtungen davoneilten, sagte Josh zu mir: »Ich bringe ihr immer noch Blumen aufs Grab.«
    »Das freut mich.«
    »Ich vergesse sie nicht.«
    »O Josh«, erwiderte ich, »irgendwann darfst du vergessen. Jeder hat das Recht zu vergessen.«

    Aber während ich am Kanal entlang nach Hause ging, dachte ich: Ich kann nicht vergessen. Ich werde die Frauen, die gestorben sind, nicht vergessen. Zoë und Jenny. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich fest damit rechne, sie zu sehen, wenn ich auf der Straße um eine Kurve biege oder in einen überfüllten Bus steige und auf der Suche nach einem Platz den Gang entlanggehe oder wenn ich in einer Menschenmenge nach einer Freundin Ausschau halte.
    Ich kenne ihre Gesichter besser als alle anderen, sogar besser als das meiner Mutter oder meines Vaters, besser als das Gesicht eines Geliebten, zu dem ich einmal voller Leidenschaft aufgeblickt habe. Ich kenne ihre Gesichter wie mein eigenes Spiegelbild. Ich habe sie endlos angestarrt, in ihnen nach Hinweisen gesucht, sie angefleht, ihre Geheimnisse zu offenbaren und mir zu helfen.
    Obwohl ich ihnen nie begegnet bin, fehlen sie mir.
    Damals habe ich sie nicht gekannt, aber jetzt, da es zu spät ist, kenne ich sie. Ich kenne sie so, wie sie niemand sonst gekannt hat. Sie hätten mich auch gekannt. Auch wenn wir uns vielleicht nicht gemocht hätten, sind wir unter der Haut doch Schwestern, denn ihre Angst war meine Angst, ihre Scham meine Scham. Auch die Wut hatten wir gemeinsam, ebenso die Panik, die Verletztheit und das Gefühl, hilflos zu sein. Das Wissen, dass das Entsetzen immer näher kam. Ich weiß, was sie gefühlt haben. Ich habe es selbst gefühlt.
    Andere werden sie mit der Zeit vergessen, oder zumindest ihre Erinnerungen an sie werden verblassen. So sollte es auch sein, wenn jemand stirbt. Die Menschen, die den Betreffenden einst ihre Liebe beteuert haben, werden die gleichen Worte zu jemand anderem sagen. Das ist gut und richtig so – nur so können wir das Leben ertragen.
    Ihre Gräber werden immer seltener besucht werden, bald nur noch an Tagen von besonderer Bedeutung. Die Leute werden sich gegenseitig erzählen, wie gut sie sie damals gekannt hatten; denn eine Tragödie aus der Nähe mitzuerleben, gibt uns das Gefühl, irgendwie wichtig zu sein: War das nicht schrecklich, was Zoë damals passiert ist? Was Jenny erleben musste? War das nicht furchtbar traurig?
    Ich aber kann sie nicht vergessen. Ich muss sie mit mir herumtragen, wo immer ich auch hingehe: durch das Leben, das mir neu geschenkt wurde, durch die Jahre, die sie nicht hatten, durch all die Liebe, die Verluste und Veränderungen, die sie nicht mehr erlebten. Jeden Tag sage ich von Neuem zu ihnen: Adieu!
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