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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder
Autoren: Nicci French
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Leben neu geschenkt worden ist?
    Den ersten Tag und die erste Nacht verbrachte ich im Haus meiner Eltern, wo ich meinem Vater half, den Gartenschuppen zu streichen, und stundenlang mit dem Gesicht nach unten auf der ausgebleichten Chenille-Tagesdecke in meinem alten Zimmer lag und den Geruch nach Mottenkugeln und Staub einatmete, während meine Mutter hektisch in der Küche herumklapperte, mir eine Tasse milchigen Tee nach der anderen brachte und Ingwerkekse für mich buk, die ich nicht hinunterbrachte.
    Jedes Mal, wenn sie ins Zimmer trat, starrte sie mich besorgt an, legte mir die Hand auf die Schulter oder streichelte mir sanft übers Haar. Ich hatte ihnen ein wenig von dem erzählt, was passiert war, aber vieles, was wichtig war, weggelassen.
    Dann kehrte ich in meine Wohnung zurück und startete eine große Putz- und Entrümpelungsaktion. Mein erster Gedanke war gewesen, auf der Stelle auszuziehen, meine Sachen zu packen und neu anzufangen – aber was für einen Sinn hätte das gehabt? Also riss ich die Terrassentür auf und zog eine alte Latzhose an, die aussah, als hätte sie mir jemand als Scherzartikel geschenkt – jedenfalls konnte ich mich nicht erinnern, sie selbst erworben zu haben. Ich drehte das Radio so laut auf, dass sämtliche Räume mit fröhlicher, seichter Musik beschallt wurden. Dann legte ich los. Ich ging jede Schublade durch. Ich füllte Müllsä-
    cke mit zerrissenen Strumpfhosen, gebrauchten Umschlägen, alten Seifenstücken, leeren Toilettenpapier-rollen, ausgetrockneten Filzstiften, schimmeligem Käse.

    Ich stapelte alte Zeitungen, um sie anschließend zum Altpapiercontainer zu bringen, sammelte alle leeren Flaschen in einer großen Schachtel. Ich faltete Klamotten zusammen oder hängte sie in den Schrank, füllte einen Wäschekorb mit schmutziger Wäsche, sortierte Rechnungen und bearbeitete das Waschbecken, die Kloschüssel und alles, was es sonst noch nötig hatte, mit Haushaltsrei-niger. Ich taute den Kühlschrank ab und schrubbte den Küchenboden. Ich putzte die Fenster und staubte sogar ab!
    Das Ganze nahm zwei Tage in Anspruch. Zwei Tage lang arbeitete ich einfach von morgens bis abends vor mich hin. Es war wie eine Meditation. Ich konnte meinen Gedanken nachhängen, ohne wirklich nachzudenken, Erinnerungen in meinem Kopf herumtanzen lassen, ohne ihren Ursprung zu ergründen. Ich empfand keine Euphorie, nicht einmal große Erleichterung, aber nach und nach hatte ich das Gefühl, langsam wieder in mein normales Leben hinüberzuwechseln. Ich nahm Morris’
    Visitenkarte vom Schreibtisch, rief mir ins Gedächtnis, wie er mich mit seinem einen, glänzenden Auge angestarrt hatte, als er hinausgetragen worden war, und legte sie dann zu dem anderen Müll in die Tüte. Ich zerknüllte das Blatt mit den Namen und Adressen aus den Akten, die Cameron für mich entwendet hatte, und warf es ebenfalls weg, allerdings nicht, ohne vorher Louises Adresse notiert zu haben. Auf dem Boden fand ich zwei kleine Knöpfe.
    Stammten sie vielleicht von Cameron? Ich behielt sie einen Augenblick in der Hand, bevor ich sie in die Schuhschachtel legte, in der ich in Zukunft mein Nähzeug aufbewahren würde.
    Ich ging nicht ans Telefon und schaltete den Anrufbeantworter laut. Es kamen viele Anrufe, weil die Medien Wind von der Geschichte bekommen hatten. Der Participant brachte sogar Fotos von uns – Zoë, Jenny und mir –, obwohl mir völlig schleierhaft war, woher sie mein Bild hatten. Ganz oben auf Seite drei waren wir nebeneinander aufgereiht, als wären wir alle drei gestorben. Oder alle noch am Leben. Reporter meldeten sich, alle möglichen Freunde wollten plötzlich mit mir reden, Cameron sprach mir mehrmals mit leiser, drängender Stimme aufs Band, und Leute, denen ich erst ein- oder zweimal im Leben begegnet war, riefen mich aufgeregt an, weil sie festgestellt hatten, dass sie jemanden kannten, der plötzlich und für kurze Zeit ein wenig berühmt war. Ich ging kein einziges Mal ran.
    Eine Ausnahme machte ich am frühen Morgen des vierten Tages, einem schönen, etwas windigen Tag, an dem die Sonne durch die offene Terrassentür schien und sich unter dem Birnbaum, wo ich Cameron zum ersten Mal umarmt und geküsst hatte, die ersten Herbstblätter sammelten. Während ich überlegte, ob ich als Nächstes den Garten in Angriff nehmen und die Brennnesseln ausrupfen sollte, klingelte wieder einmal das Telefon, und der Anrufbeantworter sprang an.
    Ich war gerade im Begriff, kochendes Wasser über einen
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