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Der Sommermörder

Titel: Der Sommermörder
Autoren: Nicci French
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ruht.
    Das Lächeln, das geschwollenes, schwindendes Zahnfleisch enthüllt, der abgeschlagene Schneidezahn, die Porzellankrone.
    Der dunkel nachgewachsene Scheitel in blondiertem Haar.
    Die dicken, gelblichen Zehennägel, die ihr Alter verraten.
    Das erste Anzeichen von Krampfadern auf einem weißen Bein, wie ein violetter Wurm unter der Haut.
    Im Park liegen sie auf der Wiese und lassen die Sonne auf sich herabbrennen. Sie sitzen draußen vor den Pubs, Bierschaum auf den Lippen. Manchmal stehe ich zwischen ihnen in der stickigen Luft der U-Bahn und spüre ihr heißes Fleisch. Manchmal sitze ich so dicht neben ihnen, dass sich unsere Oberschenkel leicht berühren. Manchmal halte ich ihnen die Tür auf und folge ihnen ins kühle Innere einer Bibliothek, einer Galerie, eines Ladens. Dann studiere ich ihren Gang, die Art, wie sie den Kopf wegdrehen oder sich das Haar hinter die Ohren schieben.
    Die Art, wie sie mit einem Lächeln wegsehen. Manchmal sehen sie nicht weg.
    Noch ein paar Wochen lang herrscht Sommer in der Stadt.

    ERSTER TEIL
    ZOË

    1. KAPITEL
    hne die Wassermelone wäre ich nicht berühmt geworden, und ohne die Hitze hätte ich die O
    Wassermelone nicht gehabt. Deswegen fange ich wohl am besten mit der Hitze an.
    Bloß festzustellen, dass es heiß war, erweckt vielleicht den falschen Eindruck. Es lässt Sie womöglich ans Mittelmeer denken, an einsame Strände und Longdrinks mit farbenfrohen Papiersonnenschirmen. Nichts dergleichen. Die Hitze war wie ein großer, fetter, stinkender alter Hund, ein räudiger, schmieriger, furzender, verendender alter Hund, der sich Anfang Juni auf London niedergelassen und drei schreckliche Wochen lang keinen Millimeter bewegt hatte. Es war immer schweißtreibender und schwüler geworden, und das anfängliche Blau des Himmels hatte sich im Lauf der Zeit in eine giftige Mischung aus Gelb und Grau verwandelt.
    Die Holloway Road hatte inzwischen etwas von einem riesigen Auspuffrohr, weil die Abgase der Autos vom Gewicht noch schädlicherer Schadstoffe auf Straßenhöhe festgehalten wurden. Wir Fußgänger husteten einander an wie Beagle, die gerade aus einem Tabaktestlabor befreit worden waren. Anfang Juni hatte ich es noch als wohltuend empfunden, ein Sommerkleid anzuziehen und den leichten Stoff auf meiner Haut zu spüren, aber mittlerweile waren meine Kleider abends immer rußgeschwärzt und fleckig, und ich musste mir jeden Morgen die Haare waschen.
    Normalerweise wird mir die Auswahl der Bücher, die ich meiner Klasse vorlese, nach faschistischen, totalitären, von der Regierung vorgeschriebenen Prinzipien aufoktroyiert, aber an diesem Morgen hatte ich ausnahmsweise mal rebelliert und ihnen eine Brer-Rabbit-Geschichte vorgelesen, die ich in einer Pappschachtel voller ramponierter Kinderbücher gefunden hatte, als ich die Wohnung meines Dads ausräumte. Fasziniert hatte ich alte Schulberichte durchgesehen, Briefe gelesen, die lange vor meiner Geburt geschrieben worden waren, und billige Porzellanfigürchen betrachtet, die eine Flut von sentimentalen Erinnerungen auslösten. Die Bücher hatte ich alle behalten, weil ich dachte, dass ich eines Tages vielleicht selbst Kinder haben würde und ihnen dann die Bücher vorlesen könnte, die Mom mir vorgelesen hatte, ehe sie gestorben war und es Dad überlassen hatte, mich jeden Abend ins Bett zu bringen. Seit damals gehörte das Vorlesen für mich zu den Dingen, die ich verloren hatte, und deshalb wurde es in meiner Erinnerung zu etwas sehr Wertvollem, Wunderbarem. Immer wenn ich Kindern etwas vorlese, kommt es mir ein bisschen so vor, als hätte ich mich in eine weiche, verschwommene Version meiner Mutter verwandelt. Als würde ich dem Kind vorlesen, das ich selbst einmal war.
    Ich wünschte, ich könnte sagen, jene klassische alte Kindergeschichte hätte meine Schüler so richtig in ihren Bann gezogen. Vielleicht ließ das übliche Geschrei und Gestupse, das Nasenbohren und An-die-Decke-Starren ja tatsächlich ein klein wenig nach, aber als ich sie hinterher zu der Geschichte befragte, kam in erster Linie heraus, dass keines der Kinder wusste, was eine Wassermelone war. Ich griff nach der roten und der grünen Kreide und malte ihnen eine an die Tafel. Eine Wassermelone ist so einfach zu zeichnen, dass sogar ich dazu in der Lage bin.
    Trotzdem starrten mich die Kinder weiterhin ratlos an.
    Ich versprach ihnen, am nächsten Tag eine Melone mitzubringen, wenn sie während der letzten Nachmittagsstunde besonders brav wären, und
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