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Der Sommerfaenger

Titel: Der Sommerfaenger
Autoren: Monika Feth
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hatte, ob er sich vorstellen könnte, in ihre WG zu ziehen. Er war noch nicht so weit, er konnte noch keinen Menschen derart nah an sich heranlassen. Mit Albert war es anders. Albert akzeptierte ganz selbstverständlich einen Rest von Distanz, der für Luke lebenswichtig war.
    Nähe bedeutete Tod.
    Dennoch war Luke schwach geworden. Er war Jette bedenklich nahegekommen. Noch mehr Nähe durfte er nicht zulassen. Das würde sie beide töten.
    Mitternacht war vorbei. Die ersten Lichter in den Fenstern erloschen. Die Stimmen auf den Balkonen und unten im Hof wurden leiser. Windlichter schimmerten in der Dunkelheit. Luke trat auf den kleinen, schmalen Balkon hinaus und setzte sich auf den Klappstuhl, den er dort aufgestellt hatte.
    Ein leichter Wind kühlte ihm die Stirn und erfrischte ihn ein wenig. Dankbar hob er das Gesicht und schloss die Augen. Er hatte Sehnsucht nach Menschen, nach einem Gespräch. Er hätte sich gern treiben lassen. Irgendwohin. Hauptsache weg von sich selbst und den Erinnerungen, gegen die er Tag und Nacht kämpfte.
    Er wäre gern ein anderer gewesen.
    Luke lachte auf und spürte einen bitteren Beigeschmack.
    Ein anderer.
    War er das nicht längst?
    Die Nacht war sternenklar. Ein undefinierbarer, beinah schwülstiger Blütenduft wehte ihm in die Nase und verschlimmerte seine Kopfschmerzen. Er zog sich wieder in sein Zimmer zurück, streckte sich vorsichtig auf dem Bett aus und bedeckte die Augen mit dem Unterarm. Vielleicht gelang es ihm ja, einzuschlafen. Vielleicht hatte er das Glück, nicht die ganze Nacht mit diesen Schmerzen durchstehen zu müssen.
    Ihm war elend zumute wie schon lange nicht mehr.
    *
    Imke Thalheim hatte ihre Mutter ins Haus begleitet, winkte ihr jetzt noch einmal zu, stieg wieder in ihren Wagen und fuhr los. Die alte Dame hatte lange ausgeharrt. Sie war vernarrt in ihre Enkelin und die gesamte Wohngemeinschaft und besaß außerdem eine erstaunliche Konstitution.
    »Hattest du nicht auch den Eindruck, dass meine Mutter ein bisschen beschwipst war?«, fragte Imke.
    »Ein bisschen?« Neben ihr auf dem Beifahrersitz gähnte Tilo zum Steinerweichen. »Deine Mutter trinkt jeden Mann unter den Tisch.«
    »Klingt da etwa eine Spur Chauvinismus mit?«
    »Männer vertragen tatsächlich mehr als Frauen«, verteidigte sich Tilo ohne großen Elan. Dann konnte er nicht widerstehen, eins draufzusetzen: »Man nennt sie nicht umsonst das starke Geschlecht.«
    Imke konzentrierte sich auf die Straße und riskierte nur einen kurzen Seitenblick. In der Dunkelheit spürte sie Tilos Grinsen mehr, als sie es sah. Er berührte ihre Hand, und sie umfasste für einen Moment seine Finger und drückte sie.
    »Hat es dir gefallen?«, fragte er.
    »Endlich ist ein bisschen Ruhe bei den jungen Leuten eingekehrt.« Darüber hatte sie den ganzen Abend nachgedacht. »Auf gewisse Weise werden sie allmählich sesshaft. Das beruhigt mich wirklich sehr.«
    »Bist du sicher?«
    Der Zweifel in seiner Stimme ließ sie schmunzeln. Er kannte sie zu gut und wusste, wann sie sich etwas vormachte.
    »Natürlich bleibt immer ein Rest … Besorgnis. Jette und Merle haben in der Vergangenheit schließlich nichts ausgelassen, um sich in Gefahr zu bringen. Irgendwie habe ich die Hoffnung, dass jetzt, wo sie zu fünft sind, einer auf den andern aufpassen wird.«
    »Zu fünft?« Tilo hob die Hände, um an den Fingern abzuzählen. »Du vergisst Cleo, Marius, Clarissa, Soraya, Carlos …«
    »Ich weiß«, unterbrach Imke ihn. Sie verdrängte gern, dass Mina als Multiple in viele unterschiedliche Persönlichkeiten gespalten war. In Gegenwart des Mädchens empfand sie oft ein Unbehagen, das sie nicht zu unterdrücken vermochte.
    »Gib ihr eine Chance, Ike.«
    Nur Tilo benutzte diesen Kosenamen, und wenn Imke ihn hörte, war sie Wachs in seinen Händen.
    »Es ist ja nicht so, dass ich Mina nicht mag«, sagte sie. »Aber ich kriege Gänsehaut, wenn mich plötzlich eine andere Persönlichkeit aus ihren Augen anschaut.«
    »Mina ist nicht gefährlich. Ich lege meine Hand für sie ins Feuer.«
    Und wenn du dich verbrennst?, dachte Imke.
    Sie hütete sich, den Gedanken auszusprechen. Mina war Tilos Patientin. Er besuchte sie einmal in der Woche in der Klinik, um mit ihr zu arbeiten. Nie zuvor hatte er einen Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung (oder dissoziativer Identitätsstörung, wie es korrekt hieß) therapiert. Der Fall begeisterte ihn.
    Auch Imke spürte die Faszination, die von Mina ausging, aber es war eine dunkle
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