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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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in einer Klarheit in sich einschloss, die ich weder mit jemandem teilen noch jemandem hätte erklären können. Einen Moment lang waren meine Welt und der Rest der Welt eins. Ich gehörte plötzlich dazu. Und ebenso plötzlich war es vorbei. Mutter pfiff weit, weit draußen in der Welt der anderen, die üblichen Signale, zwei kurze, abfallende Töne. Ich mochte es nicht, wenn nach mir gepfiffen wurde, aber dieses Mal ließ ich es gut sein. Ich hatte meinen Wutanfall gehabt und war zufrieden.
    Ich ging ums Haus zur Terrasse, die im Schatten badete, unter der Markise, so groß wie ein halbes Zirkuszelt. Wir aßen neue Kartoffeln mit geschmolzener Butter und Sommerkohl. Wir machen es uns heute mal einfach, wie meine Mutter zu sagen pflegte, wobei sie das Essen meinte. Das war ihre Freiheit, die Ansprüche hinunterzuschrauben, uns gegenüber, sich selbst gegenüber, das geschah nicht oft, nur ab und zu. Sie nahm sich frei, ich meine, Freiheiten, sie kaufte sich Zeit, wenn sie es mal einfach machte, dann hatte sie mehr davon übrig. Ich weiß nicht, wozu sie diese Zeit benutzte, die sie dann übrig hatte, träumte sie, bereute sie, war sie glücklich, besorgt, hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich diese Freiheit nahm, es sich mal einfach zu machen, ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich es als eine jämmerliche Freiheit ansah. Verdienten sie etwa nicht etwas Besseres, etwas Größeres, Prächtigeres, etwas mit mehr Würde als die Freiheit, die eine einfache Mahlzeit beinhaltete, alle diese Mütter, die auf ihre eigenen Möglichkeiten und Chancen verzichtet hatten und sich stattdessen in den Dienst anderer gestellt hatten, diejenigen, die Hausfrauen genannt wurden, weil sie nicht nur die Frauen ihrer Ehemänner waren, sie waren außerdem Frauen der Küche, des Staubsaugers, des Bettzeugs, der Nähnadeln und der Besen, verdienten sie denn nicht etwas anderes? Oh doch, sie verdienten etwas Größeres. Sie verdienten einen anderen Nachruf, diese Frauen, die im Nachhinein herabgewürdigt wurden, verachtet und lächerlich gemacht, die als unnütz und hohl abgeschrieben wurden. Diese Mütter waren das Gegenteil. Sie waren es, die uns die Aufhänger an die Kleidung nähten. Sie waren es, die uns immer wieder fanden. Wir machen es uns heute mal einfach, sagte Mutter. Und während ich das schreibe, denke ich: Sie verdient einen Nachruf.
    »Es gefällt mir so«, sagte ich.
    »So?«
    »Mal einfach.«

5
    A ls die Uhr auf sechs zuging, lief ich hinunter zum Anleger, um es hinter mich zu bringen. Es dauerte seine Zeit, dorthin zu gehen, denn mein Fuß war schlimmer als je zuvor. Er war widerborstig und bockig. Er wollte mich vom Kurs abbringen, über Zäune, hinunter in Gräben, hoch auf Bäume. Schließlich schaffte ich es doch, am Ziel anzukommen. Iver Malt stand wie üblich da und angelte. Das Ungewöhnliche war, dass wir eine Verabredung hatten. Ich wollte keine Verabredungen haben. Er drehte sich erst um, als ich direkt hinter ihm stand, und eigentlich drehte er sich auch dann nicht um, sondern warf nur einen schnellen Blick über die Schulter, während er langsam die Schnur einholte.
    »Will nur sehen, ob mein Vater mit der Fähre kommt«, sagte ich.
    »Ja, logo.«
    »Ist gut möglich, dass er kommt.«
    »Schön für dich. Dann könnt ihr den Fahnenmast streichen.«
    »Genau. Der muss gestrichen werden.«
    Iver Malt gab mir die Konservendose.
    »Bist du Linkshänder?«
    Ich hätte antworten können, dass ich Linksfüßer war, auch wenn es so ein Wort nicht gibt. Aber jetzt gab es das, Linksfüßer, ich konnte am besten auf dem linken Fuß gehen.
    »Nein«, sagte ich, »du?«
    »Warum hältst du sie dann in der Rechten?«
    Ich wechselte die Hand, nahm die Schnur in die andere.
    »So?«
    »Du kannst das Vorfach entweder über dem Kopf schleudern, ungefähr wie ein Lasso, oder neben dir. Kapiert?«
    Ich versuchte es zunächst mit dem Lasso. Der Blinker, der gold und rot war, schien mir viel zu schwer zu sein, und ich hätte fast das Gleichgewicht verloren.
    »Ich glaube, wir fangen lieber mit der Seite an«, meinte Iver.
    Jetzt stellte er sich hinter mich. Er richtete meinen Arm aus und justierte mein Handgelenk, zog sich dann ein Stück zurück. Ich wirbelte wie eine Windmühle, ließ die Schnur los, und das Vorfach flog in den Fjord, ungefähr acht Zentimeter von den Anlegerpflöcken entfernt. Ich holte es ein und warf Iver die Dose zu.
    »Du kannst gern angeln. Ich scheiß drauf.«
    Iver sah ganz verwundert aus
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