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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Autoren: Luchterhand
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Mal umarmt hat. Vor fünf Wochen muss es gewesen sein, einen Tag bevor der Arzt meinte, Vater müsse in die Klinik, zu Hause bleiben könne er in seiner Gemütsverfassung nicht. Nach anfänglichem Zögern und Gesprächen mit Mutter ist er dann gegangen, hat sich nicht gewehrt, als sie ihn auf die geschlossene Abteilung gebracht haben. Dort durften sie ihn vorübergehend nicht besuchen. Vielleicht hatte er da bereits keinen anderen Weg mehr gesehen. Vor einigen Jahren hatte Lena zusammen mit der Mutter deren beste Freundin Sarah in dieser Klinik besucht. Sie hatte in einer Anwandlung ihre Wohnung gekündigt und ihr Hab und Gut an die jüdische Gemeinde und ein Behindertenwohnheim in der Nähe verschenkt. Aus heiterem Himmel konnte sie es nicht mehr ertragen, irgendetwas zu besitzen, und hatte Pläne gefasst, nach Israel auszuwandern, in einen Kibbuz, in dem ein paar Monate zuvor ein Bruder ihrer Mutter verstorben war. Sie war öfter zu ihm gereist und überlegte seit Jahren, ob sie ihm nicht nach Israel nachfolgen sollte. Nach den lange zurückliegenden Besuchen bei Sarah auf der geschlossenen Abteilung kamen Lena die heruntergekommenen Pavillons der Klinik inzwischen seltsam vertraut vor. Sie staunte wieder über die großräumigen Toiletten, die messingfarbenen Wasserhähne und Türbeschläge, die schwarzweißen, an manchen Stellen mit Blumengirlanden versehenen Kachelböden. Jetzt stand sie hier in diesem kalten Raum, konnte nicht weinen, war starr, konzentrierte sich auf ihre Erinnerung an den Steinhof und war bemüht, die Erinnerung an ihren Vater zurückzudrängen, sie hatte Angst vor dem, was kommen könnte. Das Stechen im Hals, das Brennen überall, die schwarze ziehende Leere. Sie wusste nicht, was auf sie wartete, wenn sie sich die raue Haut seiner Hände vorstellte und spürte, wie er sie zart und doch kratzig am Nacken festhielt, um sie an sich zu ziehen und ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken, wie beiläufig und ein wenig scheu. Sie fühlte ihre eiskalten Zehenspitzen und richtete den Blick auf die verkrampften Hände ihrer Mutter, die neben ihr stand, sich nicht rührte und auf das schon fremd gewordene Gesicht starrte, das friedlich und jugendlich aussah, viel gelöster als in der letzten Zeit, ohne dunkle Augenringe und tiefe Falten auf der Stirn. Niemand würde jemals mehr »Leni« zu ihr sagen, niemand würde sie »Weibi« rufen, niemand würde ihr vom Großvater in Kapfenberg erzählen, niemand zeigen, wie man mit straff an den Oberkörper gelegten Armen vom Dreimeterbrett ins Wasser springen konnte, mit dem Kopf voraus. Etwas das sich Lena selbst nie getraut hatte, weil sie immer im letzten Moment die Hände nach vorn strecken musste oder vor das Gesicht hielt aus Angst, Wasser in die Nase zu bekommen. Sie sah den Vater, wie er am Beckenrand oder neben dem Sprungbrett stand und ihr in letzter Sekunde vor dem Absprung zurief, »Du schaffst das, Leni. Du schaffst das!« Welche Geheimnisse würde der Vater jetzt für sich behalten? Wie der Ort in England hieß, wo sein Kriegsgefangenenlager stand zum Beispiel. Die Mutter kannte den Ortsnamen nicht, sie hatte ihn vermutlich aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Als Lena in der Schule gerade England durchgenommen hatte, konnte sie davon erzählen, dass ihr Vater zwei Jahre lang dort gelebt hatte. Die Lehrerin hatte sie bewundert dafür. Auf die Frage jedoch, wo er denn genau gewesen sei und was er dort gemacht hatte, konnte Lena nicht antworten und war sich im selben Moment bewusst, dass die Antwort, er habe die Zeit in der Kriegsgefangenschaft verbracht, nicht passend gewesen wäre. Lena würde den Vater nicht mehr fragen können, ob es ihm dort gut gegangen sei, und wie es in einem Lager so war. Sie würde nicht mehr erfahren, ob er Angst vor dem Sterben gehabt hatte. »Was glaubst Du, wohin Du nachher kommst? Wie stellst Du Dir vor, wird es dann sein? Du hast doch so sehr gegen die Kirche gewettert, gegen die Pfaffen, Philister und Pharisäer, wie Du sie genannt hast. Wohin bist Du jetzt gegangen, Papa, ist es warm dort, hast Du doch an Gott geglaubt, als Du gesagt hast, irgendetwas muss es geben, aber Du weißt nicht, wie Du es benennen sollst.« Satzschlangen verknüpften sich in Lenas Kopf zu einem Gespinst, das sie ablenkte von dem Bild vor ihren Augen, von der Unruhe, die sie inzwischen zwang, von einem Bein auf das andere zu treten. Sie war erleichtert, als der Arzt, der für eine Weile das kleine hohe Zimmer verlassen hatte, dessen Wände im
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