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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Autoren: Luchterhand
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antworten, versuchte den richtigen Monat zu nennen, das Jahr, war wieder anwesend im alles durchdringenden Licht des Herbstmittags, in einem Pavillon der psychiatrischen Klinik in Wien. Nie hätte er gedacht, dass er sie einmal als Patient von innen sehen würde. Er schüttelte den Kopf, rieb sich mit den Handflächen das Gesicht, den Brief an Margarethe würde er in dieser Form nicht zu Ende schreiben, kein weiterer Bericht über die Stationen seiner langen Reise durch die besetzten Länder oder die Schilderung dessen, was er erlebt hatte auf dem Vormarsch, in den Etappen. Alles was er bisher berichtet hatte, war beschönigt gewesen, unvollständig, die harten Geschichten hatte er ausgespart, doch war es nicht bewusst geschehen, er hatte einfach eine Perspektive gewählt, die Margarethe vertragen würde. Er musste mit der Möglichkeit rechnen, dass Lena den Brief in die Hände bekommen könnte. Er hatte nichts davon geschrieben, wie er mit einem Kameraden dazu abkommandiert worden war, im Morgengrauen die Männer eines Dorfes auf Lastwagen zu verladen, mehr als zweihundert waren es gewesen, das Dorf hatten sie später angezündet, Frauen, Kinder und Alte waren in einen nahe gelegenen Wald getrieben worden, sie hatten sie laufen lassen. Was mit den Männern geschehen war, hatte er zwei Tage später erfahren, erschossen und verscharrt wurden sie, alle, dabei hatte er geglaubt, sie würden zur Zwangsarbeit nach Deutschland transportiert werden. Es war Krieg, die einen machten Gefangene, wie die anderen auch, man musste immer damit rechnen, in einem Arbeitslager zu landen oder erschossen zu werden, sobald man in die Hände der Gegner geriet. Er würde einen anderen Brief an Margarethe schreiben, einen kurzen Brief, das genügte. Er war dabei gewesen, er hatte geschossen, hatte nie mehr daran gedacht, hatte nicht mehr daran denken wollen, nachdem sie sich auf der Wiese hinter dem Dorf im Schatten der Olivenbäume mit Wein betrunken hatten, den sie aus dem Keller des Bürgermeisters geholt hatten. Sie hatten auf den Haufen von Plündergut in der trüben Hitze bis in die Abendstunden getrunken, bis endlich die Lastwagen kamen und sie abholten, zusammen mit der Beute aus den Häusern und dem gesamten Vieh. Niemand hatte über das Abschlachten der Bewohner auf dem Dorfplatz gesprochen, auch er nicht. Er erinnerte sich auf einmal an den Beginn der durchwachten Nächte mit ihren Albträumen, die ihn schon im englischen Gefangenenlager nicht in Ruhe gelassen hatten. Dort hatten viele unruhig geschlafen, schrieen im Bettensaal, während andere missmutig vor der Baracke saßen, rauchten und in den Sternenhimmel oder ins regnerische Dunkel der Nacht starrten. Zurück in Wien war alles in tiefere Schichten abgesunken, die Träume verloren sich in der Müdigkeit eines arbeitsreichen Alltags. Max war später nicht zu den Kameradschaftsabenden gegangen, hatte nur mit Jagbauer über die Zeit bei der Wehrmacht geredet. Er wollte nach vorne sehen mit seiner Margarethe. Sie hatte ihn abgemagert am Bahnsteig erwartet, als er mit einem Transport aus dem Entlassungslager in Villach angekommen war. Sie hatten sich an der Hand gehalten, immer wieder unterbrochen von einem kurzen Halt, um sich zaghaft zu umarmen, damals an einem kalten Sommertag, auf den schuttgesäumten Straßen einer halbzerstörten Stadt.

Wien November 1966
    Der Arzt blickte Margarethe und Lena von der Seite her an, als er mit einem leichten Zögern das Leintuch vom Gesicht des Toten zu heben begann. Erst als Margarethe still nickte, zog er das steife weiße Laken zurück, legte es sorgsam auf den Bauch der Leiche, deren Blässe Lena nicht erwartet hatte. »Wir haben seine Absicht, sich das Leben zu nehmen, bei der Einlieferung nicht erkennen können, beim besten Willen nicht. Wir haben ihn nach Beobachtung im geschlossenen Bereich auf die offene Abteilung verlegt. Er hat sich völlig unerwartet am Morgen aus dem Fenster gestürzt. Ich nehme an, er war nach dem Sturz bewusstlos und ist an den inneren Verletzungen verblutet. Es gibt keine offenen Brüche. Die Obduktion ist unvermeidlich, da wir ein Fremdverschulden ausschließen müssen. Bei den persönlichen Hinterlassenschaften fand sich kein Abschiedsbrief.« Satzfetzen streifen an Lenas Ohr, sie sieht zum Fenster hinaus, erkennt durch die oberen Scheiben, die nicht aus Milchglas sind, Baumwipfel, kahl, das Laub hat in den letzten Tagen der Sturm mitgenommen. Sie versucht, sich zu erinnern, wann sie den Vater das letzte
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