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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Autoren: Luchterhand
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sie sich neben mich auf das Sofa setzte und mit mir gemeinsam fernsehen wollte. Ich verschwand dann unter dem Vorwand, noch etwas für die Schule vorbereiten zu müssen, in meinem Zimmer oder nahm am Küchentisch Platz, um mit halbem Ohr die Sendung fertig zu hören. Damals handelte ich instinktiv.
    Vom Bahnhof sind wir mit dem Taxi nach Bergen-Enkheim gefahren. Mutter sah unentwegt aus dem Fenster und versuchte sich zurechtzufinden. Sie verwickelte zunächst den dunkelhäutigen Chauffeur in ein Gespräch, fragte ihn, ob er sich denn in der Stadt auskenne und ob er hier wohne. Er antwortete ihr in breitem Hessisch, er sei in Afghanistan geboren worden, aber hier aufgewachsen und stehe kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums. Als er von Mutters Wunsch hörte, sie wolle die Stadt, die sie aus ihrer Kindheit kannte, besichtigen, bot er uns an, in den nächsten Tagen eine Rundfahrt mit uns zu unternehmen. Hin- und hergerissen zwischen Freude und Misstrauen war Mutter um eine direkte Antwort verlegen. Ich bat ihn, uns seine Visitenkarte zu geben, wir würden uns gerne tags darauf melden. Bereits nachdem wir beim Hotel angekommen waren und ich Mutter gemeinsam mit dem jungen Mann die Eingangsstiegen hinaufgeholfen hatte, schlug sie vor, am Montag einen Ausflug in die Innenstadt zu buchen. Der erste Tag in Bergen-Enkheim verging schnell, und ich war überrascht, wie unkompliziert wir miteinander umgehen konnten. Ich half ihr beim Anziehen, oder wenn es darum ging, wieder vom Tisch aufzustehen und im Rollstuhl Platz zu nehmen. Souverän manövrierte sie das Gefährt auf den schmalen Gehsteigen und mir imponierte, wie sehr sie sich diese Hilfe zu eigen machte und damit beweglich blieb. Ich konnte es geschehen lassen, wenn sie lange meine Hand hielt, nachdem ich ihr die von mir geschneiderte Seidenbluse und das bestickte Brillenetui vor dem zu Bett gehen überreicht hatte. Sie erzählte mir, dass ihre Mutter an einem kleinen Wandbild gearbeitet hatte, das sie aber nicht fertigstellen konnte. »Vielleicht hast Du Lust, später daran weiterzumachen. Am besten nimmst Du Dir die Stickerei in Basel bei Deinem nächsten Besuch mit. Sie liegt ganz oben in meinem Kleiderschrank. Ich habe sie nie jemandem gezeigt, weil ich sonst angefangen hätte zu heulen.« Die Erzählung über den Schatz ihrer Mutter verblüffte mich. Ich war nicht gewohnt, mit Mutter über ihre Gefühle zu sprechen, die hatte sie meist verborgen, aber diesmal schien es, als sei ihr daran gelegen, mir mitzuteilen, was sie über die Jahre nicht erzählt hatte. »Es ist das Bild einer lesenden Frau, die auf einer Gartenbank sitzt. Ich hatte mir vorgenommen, daran weiterzuarbeiten, aber bisher habe ich das nicht geschafft.« Sie sagte auch, sie wisse gar nicht, ob der Stoff und das Garn nicht längst Opfer der Motten geworden seien. Nach dem Umzug in den Rheinhof habe sie nur noch einen kurzen Blick in die Holzschatulle geworfen, in der sie die Hinterlassenschaft ihrer Mutter über die Jahre aufbewahrt hatte. Ich konnte nicht anders, als ihr zu versprechen, mich darum zu kümmern. Zuerst nahm ich nicht sonderlich ernst, was sie sagte, und ging zu einem anderen Thema über, doch nach dem Zubettgehen, kam mir Stickerei noch einmal in den Sinn. Mutter und ich aßen gemütlich zu Abend, und nach einer anregenden Unterhaltung mit dem Wirt, der uns erzählte, was sich in den letzten Jahren im Ort alles verändert hatte, stiegen wir langsam die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf. Dort half ich Mutter, sich für die Nacht umzukleiden, etwas das für uns beide ebenfalls ungewohnt war und doch in großer Selbstverständlichkeit ablief. Es störte mich nicht, ihren gealterten Körper zu sehen, mit schlaffen Brüsten und den tiefen Falten der Haut an den Oberschenkeln. Sie schien sich nicht zu beeilen, und ich hatte den Verdacht, sie wollte sich mir unverhüllt, ungeschminkt zeigen, so wie sie als alte Frau war. Zu meinem Erstaunen ekelte ich mich nicht und konnte ihr auf ihre Bitte hin den Rücken eincremen, etwas das früher unvorstellbar für mich gewesen wäre. Es machte mir nichts aus, und ich verstand, dass sich die alten Grenzen zwischen uns aufzulösen begannen. Mutter bot mir auf diese Weise schweigend ihre Freundschaft an. Eine Szene aus Kindertagen fiel mir ein, während ich wartete, bis sie im Badezimmer fertig war. Ich saß mit sechs oder sieben auf dem Steg der Badeanstalt an der alten Donau, mit Gänsehaut und schlotternden Knien, nach einigen misslungenen
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