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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Autoren: Fabio Geda
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Zeitung.
    Rodolfo stand immer noch. »Und er heißt Nico«, sagte er und zeigte mit dem Daumen auf ihn.
    »Nicola?«, fragte ich.
    »Nein«, sagte der. »Bloß Nico.«
    »Nicodemo«, flüsterte mir Rodolfo ins Ohr. »Aber das hat ihm nie gefallen.«
    Ich stand bei ihnen, als ich unser Auto kommen sah. Ich winkte, und meine Mutter hielt an.
    »Am besten, wir verabschieden uns gleich hier«, sagte ich zu Luna und Isacco.
    Er trank gerade einen Fruchtsaft, den er aus dem Laden hatte mitgehen lassen. »Trainier Basketball! Nächsten Sommer möchte ich einen Gegner haben, der mir gewachsen ist.«
    »Versprochen.«
    Luna, der ganze Fragenkataloge ins Gesicht geschrieben standen, schwieg. Sie umarmte mich wie ein Reifen das Fass, klemmte meine Arme so ein, dass ich ihre Umarmung nicht erwidern konnte. Dann lief sie auf meine Mutter zu, die auf dem Kofferraum saß und sich eine Zigarette angezündet hatte. Sie sagte etwas zu ihr und beugte sich durchs Fenster, um einen Stift und einen Zettel vom Armaturenbrett zu nehmen. Sie lehnte sich an den Wagen und schrieb etwas. Als sie zurückkam, gab sie sowohl mir als auch Isacco einen Zettel mit ihrer Heimatadresse.
    Isacco musterte ihn begriffsstutzig. »Wieso bekomme ich auch einen?«
    »Ich bin eben mal wieder schneller als du«, sagte sie, drehte sich um und rannte davon.
    Zum Mittagessen kam Iole, die unglaubliche Köstlichkeiten dabeihatte. Großvater hatte meine Sachen bereits gepackt: Die Schuhe befanden sich in einer Jutetasche, die Skizzenbücher lagen ordentlich übereinandergestapelt auf dem Sofa, dahinter stand unser Bild.
    »Nein!«, sagte ich. »Behalt den Silver Surfer.«
    »Nimm du ihn! Hier weiß man nie, was ihm noch zustößt.«
    »Wieso, was sollte ihm denn zustoßen?«
    »Na ja … vielleicht gibt es eine Überschwemmung … oder einen Erdrutsch. Noch so einen.«
    »Ich hoffe nur, du bewahrst ihn nicht im Keller auf!«
    Ich nahm Le déjeuner sur l’herbe von der Wand, das Großvater wieder zurückgehängt hatte, und hängte den Silver Surfer auf. Das Licht, das weich und genau richtig durch eine breite Wolkenfront drang, fiel durchs Fenster und gab der Leinwand den ihr angemessenen letzten Schliff. Der Kontrast, den das Bild zum übrigen Haus, den Möbeln, Wänden und Stoffen, bildete, verlieh ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Arthur C. Clarkes Monolithen, vor dem die Menschheit mit einer ganz neuen Sicht auf sich selbst wieder aufwacht.
    Wir trennten uns, wie wir uns begrüßt hatten: wortlos, mit einem viel zu erwachsenen, kalten Händedruck. Was meine Mutter sagte, wie sie sich von ihm verabschiedete, weiß ich nicht. Sie saß schon neben mir im Auto. Unten lagen der Staudamm sowie der funkelnde See, und als ich mich kurz vor der Kurve umdrehte, standen Großvater und Iole immer noch da. Sie hoben sich vom Haus und von der Landschaft ab wie Fingerabdrücke von Lehm – so wie es Menschen nun mal tun, die mit den Orten verbunden sind, an denen sie leben.
    Kehrt man nach einem längeren Zeitraum an einen vertrauten Ort wie die eigene Stadt zurück, nimmt man Veränderungen wahr, die ausschließlich etwas mit dem Betrachter und weniger etwas mit tatsächlichen Veränderungen im Ort zu tun haben. Die Straßen führen nach wie vor zu Kreisverkehr, Rathaus, Apotheke, Hühnerbraterei, Tabakladen und Strand. Aus manchen sind Einbahnstraßen geworden, aber das ist auch schon alles. Das Gleiche gilt für das eigene Zuhause, für die den Hof säumende Hecke aus stechendem Mäusedorn, für die Elektropumpe zum Blumengießen, für die Vorhänge, das Sofa, den Fernseher, die Fotos an den Wänden, den Schreibtisch, die Stifte in der Kakaodose – alles ist noch genau so, wie man es zurückgelassen hat. Der Hund des Nachbarn macht mit dem gleichen nervigen Kläffen Jagd auf Krähen, und die Eidechsen huschen zwischen den Blumentöpfen auf der Fensterbank umher wie eh und je.
    Und doch ist nichts mehr so wie zuvor.
    Die Gegenstände, die Möbel, der Asphalt lassen sich nicht mehr auf die früheren Frequenzen einstellen. Alles war von einer abgestorbenen Hautschicht bedeckt, die wir gar nicht bemerkt haben und die die Zeit in unserer Abwesenheit abgeschliffen hat: eine Art Wahrnehmungspeeling.
    Mit einem neuen Blick auf mich und meine Umgebung suchte ich im Spiegel nach Veränderungen. War ich vielleicht gewachsen? Kräftiger geworden? Selbstbewusster? Wie gern hätte ich das mithilfe meiner alten Freunde überprüft und herausgefunden, wie ich auf sie wirkte! Aber Salvo
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