Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator
Autoren: Marco Lalli
Vom Netzwerk:
dergleichen. Ich wartete einfach, dass wieder Ruhe einkehrte, und während ich wartete, wanderte mein Blick über die Gesichter der teils Stehenden, teils Sitzenden. Ich versuchte, mir jene ins Gedächtnis zu rufen, die mich bei der Ankunft begrüßt hatten: Kollegen und Mitarbeiter der Klinik, den einen oder anderen aus dem Dunstkreis von Rektorat und Dekanat, den Ewigen Oberbürgermeisterkandidaten meiner Partei und mehrere Fraktionskollegen, den stellvertretenden Landesvorsitzenden, zwei oder drei prominente Patienten, eine Dame vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, verschiedene Geschäftsfreunde, meist Rechtsanwälte, Unternehmer, ein Makler, und einige mehr private Freunde. Auch ein paar Wissenschaftskollegen waren angereist. Keine Verwandten. Meine Eltern waren seit Jahren tot, und mein jüngerer Bruder Frederic - Friedrich war ihm zu altmodisch erschienen, und so hatte er schon vor Jahren seinen Namen kurzerhand geändert -, lebte in Hamburg.
    Sie klatschten noch immer, wenn auch mit nachlassendem Eifer, und ich fragte mich, wie lange ich dort oben schon stand, unbeweglich, ein nichtssagendes Lächeln auf den Lippen, wie jemand der eine Truppenparade abnimmt. Tatsächlich genoss ich meinen Applaus. Ich kostete ihn aus, wie selten etwas zuvor, und es bereitete mir eine dunkle Freude, ihn zu verlängern, meine frisch errungene Macht dazu zu benutzen, sie weiterklatschen zu lassen, Minute um Minute oder für immer.
    Und doch wurde es irgendwann ruhig. Sie setzten sich wieder hin, ließen die Hände in den Schoß sinken, vertauschten ihre wohlwollenden Mienen mit aufmerksam auf mich gerichteten Gesichtern und warteten jetzt ihrerseits. Wir hatten die Rollen getauscht. Jetzt waren sie es, die etwas verlangten und es gab nichts, was mich hätte entheben können, es ihnen zu geben. Das glaubte ich zumindest in diesem Augenblick.
    Wieder verstrichen einige Sekunden. Ich räusperte mich, beugte mich nach vorne zum Mikrophon. »Eure Magnifizenz, Herr Ministerpräsident, Herr Oberbürgermeister, liebe Freunde und Kollegen, sehr verehrte Damen und Herren.« Noch hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich fortfahren würde. Vielleicht hatte ich mir etwas zurechtgelegt, vielleicht vertraute ich darauf, die richtigen Worte auch so zu finden, sie kaum gedacht, ohne weitere Nachprüfung, ohne übergreifenden Plan sofort aussprechen zu können.
    Doch so weit kam es nicht. Vom äußersten Ende der ersten Reihe hatte sich eine Frau erhoben. Sie trug ein Kopftuch und eine dunkle Brille. Sie kam auf mich zu. Ich hatte mich in ihre Richtung gedreht und war erstarrt, als lauschte ich einem fremdartigen Ton nach. Langsam näherte sie sich, und ich folgte ihren Bewegungen, gebannt, als gebe es nichts Wichtigeres, als gebe es nicht die Rede, die ich gerade hielt oder zu halten gedachte, keinen Preis, keine Millionen, nichts anderes, außer sie und mich. Auch mein Publikum schien sie jetzt zu bemerken, und ic h spürte, wie die Erwartungen, die bis zu diesem Augenblick ganz auf mich gerichtet gewesen waren, sich auf sie verlagerten, ihr folgten wie ihre Blicke. Sie ging nicht vorbei und kam auch nicht hoch auf die Bühne. Sie blieb zwei Schritte vom Rednerpult entfernt stehen. Sie stand unten auf halbem Wege zwischen mir und dem Rektor, meiner Frau, dem leeren roten Stuhl, auf dem ich bis vor wenigen Minuten gesessen hatte. Dann zog sie etwas Schwarzes aus ihrer halb geöffneten Handtasche und richtete es auf mich. Als ich es erkannte, nach einer Zeitspanne, die mir unmöglich lange vorkam, schwoll gleichzeitig der Geräuschpegel in der Aula an. Es wurde geschrien, gerufen, einzelne Laute oder Worte, die zwar an mein Ohr drangen, deren Sinn mir aber verborgen blieb. Sonst tat sich nichts. Niemand überwältigte sie, keine Bodyguards warfen mich zu Boden oder sich zwischen uns. Vielleicht war auch nicht genug Zeit vergangen, vielleicht hatten die Bruchteile dieser Sekunde nur gereicht, um etwas zu denken, um gerade noch den Mund zu öffnen. Auch ich hatte mich keinen Millimeter bewegt. Und wahrscheinlich hätte sie mich mitten im Gesicht getroffen, wenn sie nicht noch etwas gesagt hätte. Sie schrie es mir entgegen mit einer schrillen, hasserfüllten Stimme, und ich hatte Zeit, mich halb umzudrehen, vielleicht in der Absicht zu fliehen oder mich hinter Pult oder Blumen zu verschanzen oder mich einfach fallen zu lassen. Im allgemeinen Tumult verstand ich nur: »Du ... größte ...!«. Auch die Schüsse hörte ich nicht. Ich spürte nur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher