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Der Sieger bleibt allein (German Edition)

Der Sieger bleibt allein (German Edition)

Titel: Der Sieger bleibt allein (German Edition)
Autoren: Paulo Coelho
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hatte brav ihren vorgesehenen Satz gesagt, und keinem der Zuschauer war etwas aufgefallen. Gabriela aber, die sich in Grund und Boden schämte, hatte es die Sprache verschlagen.
    Da die Kinder noch nicht gelernt hatten, auf der Bühne zu improvisieren (obwohl sie es im wirklichen Leben durchaus taten), der Hutmacher aber in der Szene eine zentrale Rolle spielte, wusste keins, was zu machen war – bis nach endlosen Minuten die Lehrerin in die Hände geklatscht und ›Pause‹ gerufen hatte, worauf alle von der Bühne abgehen konnten.
    Gabriela verließ, in Tränen aufgelöst, nicht nur die Bühne, sondern auch das Schulgebäude. Am nächsten Tag erfuhr sie, dass die Folgeszene mit dem verrückten Hutmacher übersprungen worden und direkt mit der Krocketpartie mit der Königin weitergemacht worden war. Die Lehrerin hatte zwar gesagt, die Geschichte von Alice im Wunderland sei ohnehin eine Geschichte ohne Hand und Fuß, darum sei Gabrielas Patzer überhaupt niemandem aufgefallen. Trotzdem hatten sich die anderen Schülerinnen und Schüler in der Unterrichtspause auf Gabriela gestürzt und sie verprügelt.
    Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Gabriela von den anderen verhauen worden war, und sie hatte durchaus schon gelernt, sich zu wehren, und ihrerseits schon öfter schwächere Kinder verhauen. Doch diesmal ließ sie die Prügel wortlos und ohne eine Träne zu vergießen, über sich ergehen, was zur Folge hatte, dass die anderen schnell von ihr abließen – sie hatten gehofft, Gabriela würde heulen und schreien, aber ihr schien das alles überhaupt nichts auszumachen. Da verloren sie das Interesse.
    Damals als Kind hatte sie bei jedem Schlag, den sie einstecken musste, gedacht:
    ›Ich werde einmal eine große Schauspielerin sein, und dann wird es den andern schon noch leidtun, dass sie mich verhauen haben.‹
     
    Wer sagt denn, dass Kinder nicht entscheiden können, was sie vom Leben wollen?
    Die Erwachsenen.
    Wir wachsen auf in dem Glauben, dass die Erwachsenen am Ende immer recht haben, dass sie klüger sind. Viele Kinder machen Ähnliches durch wie Gabriela, wenn sie den verrückten Hutmacher, Dornröschen, Aladin oder Alice spielen – und entsagen in solchen Augenblicken für immer einem Leben im Rampenlicht. Gabriela aber, die bis zu ihrem elften Lebensjahr nie eine Schlacht verloren hatte – weil sie die Intelligenteste, Hübscheste und Erste in der Klasse gewesen war –, hatte damals instinktiv gespürt: ›Wenn ich jetzt reagiere, hab ich verloren.‹
    Von ihren Schulkameraden geschlagen zu werden war eins – und sie konnte sich ja auch durchaus wehren. Etwas anderes war es, die Niederlage für den Rest ihres Lebens mit sich herumzuschleppen. Denn wir alle wissen:
    Ein Patzer bei einer Theateraufführung, weniger gut tanzen können als die anderen, vermeintlich zu dünne Beine oder ein zu großer Kopf oder andere Erfahrungen dieser Art – darauf reagiert jedes Kind anders.
    Einige wenige schwören, sich eines Tages zu rächen, indem sie versuchen, die Besten in einem Bereich zu werden, von denen alle annahmen, dass sie dort versagen würden. Sie schwören sich: ›Euch zeig ich’s. Eines Tages werdet ihr mich noch beneiden.‹
    Die meisten aber nehmen ihre Grenzen hin, und damit wird alles nur schlimmer: Sie werden unsicher, gehorsam (obwohl sie immer von dem Tag träumen, an dem sie frei und in der Lage sein werden, alles zu tun, wozu sie Lust haben), heiraten, damit es heißt, so hässlich seien sie nun auch wieder nicht (obwohl sie sich selbst immer noch für hässlich halten), sie bekommen Kinder, damit es nicht heißt, sie seien unfruchtbar (obwohl sie eigentlich gar keine Kinder haben wollen), sie kleiden sich gut, damit es nicht heißt, sie wüssten sich nicht anzuziehen (obwohl sie wissen, dass man ihnen das hinter ihrem Rücken trotzdem nachsagt).
    Ihre damaligen Mitschüler hatten Gabrielas Versprecher auf der Bühne eine Woche später vergessen. Gabriela selbst aber hatte sich fest vorgenommen, irgendwann in diese Schule zurückzukehren – als weltberühmte Schauspielerin mit Sekretären, Bodyguards, Fotografen und einer Legion Fans. Sie würde Alice im Wunderland für elternlose Kinder aufführen – das wäre den Medien eine Nachricht wert, und ihre ehemaligen Mitschüler könnten dann sagen:
    ›Wir haben einmal mit ihr auf der Bühne gestanden.‹
    Ihre Eltern wollten, dass sie Chemie studierte. Gleich nach dem College schickten sie sie daher aufs Illinois Institute of
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