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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Autoren: Lilach Mer
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sich liebenswürdig dem Gutsherrn zu, »nur dort, wo die Herrschaft sich nicht so umfassend kümmert, wie es bei Ihnen der Fall ist. Kinder verhungern, weil ihre Mütter nicht wissen, wie sie sie vernünftig zu füttern haben! Alte und Schwachsinnige verkümmern vor den Haustüren! Wenigstens arbeiten die provinzialen Heilanstalten ordentlich, sonst wäre es noch schlimmer. Auch wenn sie leider immer noch nicht überall gut angenommen werden.«
    Er seufzte, und nach einer kleinen Pause nickte der Vater. Sein Hals in dem hohen weißen Kragen wirkte dabei steif, und er erwiderte nichts.
    »Die einfachen Menschen«, sagte der Doktor, »sperren sich gegen den Fortschritt, gegen die vernünftige Ordnung der Dinge. Und gegen die Wissenschaften. Dabei gibt es unerhörte
Fortschritte. Wenn man nur einmal die Phrenologie betrachtet …«
    Neben Mina ließ die Mutter ihr Besteck langsam sinken, als wäre sie schon satt.
    Mina lächelte, ohne es zu zeigen. Die Wissenschaften … Sie waren das Steckenpferd des Doktors. Stundenlang konnte er begeistert über Dinge mit fremdartigen, langen Namen referieren, die höchstens der Vater verstand. Auch jetzt röteten sich seine Wangenknochen über dem Bart, und seine Stimme wurde scharf und strahlend.
    »Man weiß heute so viel über den Menschen, sein Gemüt, seine Physis und wie beides miteinander in Verbindung steht. Es gibt neue Methoden und Heilmittel. Und die Entwicklungen auf dem Gebiet der psychischen Chirurgie …«
    Das Messer der Mutter fiel klirrend auf den Tellerrand. Mina hob verwirrt den Kopf. Die Mutter nestelte an einer der Servietten, hielt sie vor den Mund und hustete schwach und entschuldigend. Das Stubenmädchen fuhr mit den Händen in die Schürzentaschen und suchte nach dem Riechfläschchen; aber der Doktor winkte ab.
    »Lass nur, Mädchen, es ist gleich wieder gut. Du bringst die Gnädige Frau nur in Verlegenheit. Ist es nicht schon wieder besser, Teuerste?«
    Er beugte sich über den Tisch und sah der Gutsherrin forschend ins blasse Gesicht. Sie nickte schwach, den Mund noch hinter der Serviette verborgen. Ihre Augen über dem grellweißen Tuch wirkten sehr blau; blau und irgendwie … Das Wort drängte sich plötzlich von selbst in Minas Gedanken. Irgendwie ängstlich? Besorgt? Nicht matt und vage wie sonst, sondern mit einem eigenartigen Glanz darin, wie
von verschluckten Tränen. Mina lächelte ihr zaghaft zu, aber es schien nicht so, als ob die Mutter es bemerkte. Ihr Blick blieb auf den Doktor gerichtet, der sich mit einem befriedigten Nicken wieder zurückgelehnt hatte.
    »Ja, mit der Gesundheit ist es so eine Sache«, sagte er, als wäre nichts geschehen. »Man darf nicht unvorsichtig sein, aber auch nicht zu sehr besorgt; es ist beides falsch, auf das rechte Maß kommt es an. Bei Ihnen, Fräulein Wilhelmina, scheint ja alles in der üblichen Ordnung zu sein, wenn ich mich nicht sehr irre?«
    Und er fing an, sie eingehend nach ihrem Gesundheitszustand zu befragen. Mina war viel zu sehr daran gewöhnt, um sich darüber zu wundern. So war es immer, wenn er kam; er blieb nun eben ein Doktor. Sie schluckte die kurze Verwirrung hinunter und antwortete ihm freimütig auf seine Fragen nach Kopfschmerzen, Temperaturen; aber auch nach den Büchern, die sie las, den Stücken, die sie auf dem Klavier spielte, den Pflanzen im Garten, die sie besonders liebte. Der Körper, erklärte er immer wieder, hing mit dem Geist untrennbar zusammen, viel mehr, als die meisten Menschen sich klarmachten. Eine plötzliche Vorliebe für melancholische Melodien konnte auf eine Grippe hindeuten, lange bevor irgendein körperliches Anzeichen sichtbar wurde. Fieber konnte durch den Anblick und den Geruch beruhigender Pflanzen gelindert werden.
    Die Mutter nickte dazu, sagte aber nichts. Sie hielt die Serviette noch immer in der Hand.
    »Nun«, sagte der Doktor schließlich und legte seine breiten Hände vor sich auf den Tisch, auf deren Rücken die Haare bereits grau wurden, »es scheint mir alles so zu sein, wie ich es vorzufinden gewöhnt bin, junge Dame. Dann
entlasse ich Sie aus meinem peinlichen Verhör; Sie haben sicher noch die eine oder andere Rose zu zeichnen, wenn Ihre Eltern nichts dagegen haben?«
    Er zwinkerte ihr zu, als sie hinausging.
     
    Im Flur bei der Treppe war es kühl und hell. Minas Absätze klickten auf den glatten Fliesen, als sie zu der Kommode ging, auf der sie den Zeichenblock abgelegt hatte. Sie würde vielleicht wirklich eine Stunde ins Gewächshaus gehen
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