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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Autoren: Lilach Mer
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freien Hand hielt Mina einen Zipfel ihres kurzen Rocks ausgebreitet; der glatte Stoff schimmerte sanft. Auch wenn es nicht für ein Ballkleid reichte, er umgab sie wie eine Blüte, während sie sich drehte, immer noch drehte, obwohl ihr längst schwindelig war. Jedes Mal, wenn das Uhrwerk mit einem Schnarren zum Stehen kam und sie es wieder aufzog, ohne anzuhalten, sagte sie sich selbst streng: Nur diese eine Runde noch. Nein, Mina, sei vernünftig. Nur einmal noch, und dann Schluss.
    Aber es war nie Schluss. Nicht, wenn die Staubkörnchen die Luft so sehr zum Funkeln brachten und die Kleider der Lichtdamen so hell strahlten.
    Vielleicht lag es auch an ihrem eigenen schweren Atem, dass sie die Kutsche unten auf dem Vorplatz nicht über die Kieselsteine knirschen hörte. Sie wusste, dass sie unschicklich keuchte - wie die Kettenhunde draußen, wenn sie sich
über die Kaninchen aufregten. Ihre Wangen glühten sicher wie bei einem aufgeregten Kind, und die sorgfältig gelockten Haarsträhnen über ihren Ohren waren zerzaust und verschwitzt. Ein Stück flatterndes, loses Schleifenband berührte sie immer wieder an der Schulter.
    Sie wusste auch, dass sie die Schuhe hätte ausziehen sollen. Es war immer besser, die Schuhe auszuziehen, bevor man anfing zu tanzen; am besten schon, wenn man die kleine Bodenluke, die so sehr knarren konnte, minutenlangsam, mit angehaltenem Atem, wieder hinter sich geschlossen hatte. Das Schlafzimmer der Eltern lag unter diesem Teil des Dachbodens. Zwar hielt sich tagsüber normalerweise niemand dort auf. Wenn der Mutter schwindelte, wie so oft, ruhte sie auf dem kleinen Sofa im Damenzimmer, ein Fransenplaid über die Knie gebreitet, das Kristallfläschchen mit dem scharfen Riechsalz auf einem Tischchen neben sich. Mina war nicht sicher, wie krank man sein musste, um tagsüber im Schlafzimmer bleiben zu können; wahrscheinlich so sehr, dass man morgens gar nicht erst aufstehen konnte. Wenn Vaters schwere und Mutters zögernde Schritte die Treppenstufen zum Quietschen gebracht und die Mädchen die Waschkrüge geleert hatten, verstummte das obere Stockwerk für gewöhnlich bis zum Abend. Dann fühlte es sich an wie in einem fremden Haus, und die Luft auf dem Flur dort schmeckte seltsam staubig und abgestanden, wenn man nach oben schlich.
    Immerhin, es konnte einer jener Tage sein, an denen in den Schlafkammern gewischt wurde. Es konnte sein, dass plötzlich Stimmen durch die Ritzen der Bodendielen nach oben steigen würden, ein Summen, ein tuschelndes Gespräch; das Geräusch des Staubwedels aus Pfauenfedern
und Elfenbein, der an die Verzierungen des Kleiderschranks stieß. Wenn man dann nicht rechtzeitig aufmerksam wurde, dauerte es nicht lange, bis die Bodenluke schwungvoll aufgestoßen wurde und vorwurfsvolle Blicke unter einem runden, weißen Spitzenhäubchen die Spieluhr zum Verstummen brachten.
    »Gnä’ Fräulein sind ja schon wieder hier oben.«
    Dann wurde man von der Mamsell am Handgelenk gepackt, kaum dass es einem gelungen war, die Uhr mit dem Fuß unter einen alten Hocker zu schieben; wurde gepackt und unerbittlich nach unten gezogen wie ein unartiges Kind, ganz gleich, wie alt man war. Ins Damenzimmer zur Mutter, wo Handarbeit wartete. Ins Schulzimmer im anderen Flügel, wo Französischaufgaben an der schwarzen Tafel Kreidestäubchen elegant zu Boden rieseln ließen …
    Nein, mit den Schulaufgaben war es ja nun vorbei. Mademoiselle mit ihrem Hütchen und den winzigen Spitzentaschentüchern; Mademoiselle, die so sanft lächelte und deren kleine Finger wie Vogelkrallen kniffen, wenn man tagträumte; Mademoiselle, die Mina alles beigebracht hatte, was eine junge Dame wissen musste, war vorgestern in die Kutsche gestiegen. Leise weinend, wie man es erwarten konnte, aber doch nicht so sehr, dass ihre blassen, kurzsichtigen Augen sich unschicklich gerötet hätten. Inzwischen war sie sicher längst zu Hause im vornehmen Paris angekommen. Ob die weltgewandten Mädchen dort sie noch eine Weile an ihre ungeschickte norddeutsche Schülerin erinnern würden?
    Keine drückende, enge Schulbank mehr für Mina. Keine dunkle Schürze, die den Kreidestaub anzog, so dass man schon unordentlich aussah, wenn man sich nur hingesetzt
hatte. Keine Hausaufgaben, die einen von den stillen, verblichenen Wundern des Dachbodens fernhielten. Stattdessen … die Konfirmation, in ein paar Tagen schon. Der Herr Pastor, der sie geduldig sonntagnachmittags den Katechismus gelehrt hatte und der beim Sprechen mit
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