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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Autoren: Lilach Mer
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Irgendwo in der Vergangenheit schmiegte ein kleines, gehänseltes Mädchen weinend seinen Kopf in Mutters Schoß … Dann richtete die alte Frau sich so gerade auf, wie sie konnte; als sie wieder sprach, war ihre Stimme ganz sanft.
    »Jetzt schweigst du besser, mein armes Töchterlein. Hast du vergessen, wer dein Vater war?«
    Unwillkürlich blickten drei Augenpaare zu der verblassten Photographie auf dem Nachttisch hinüber, und das Herz der alten Frau füllte sich mit einer Sehnsucht, die kaum noch zu ertragen war. Bald, bald, mein Liebster. Es gibt noch etwas, das ich tun muss …
    Sie machte eine Handbewegung, und der schon wieder geöffnete, lippenstiftrote Mund ihrer Tochter schloss sich widerwillig.
    »Nein, mein Liebchen, jetzt werde ich ein wenig reden. Und du wirst mich nicht unterbrechen. Auch nicht, wenn ich von Schwänen spreche. Selbst dann nicht, wenn es mir etwa einfallen sollte, von Wassermännern und Nixen zu reden, wie unser kluges Mädchen hier. Ich werde reden, und ihr werdet so freundlich sein, mir ein kleines Weilchen dabei zuzuhören. Und wenn ich fertig bin, meine liebe, schöne, eigensinnige Tochter, dann wirst du hinübergehen und dieses Fenster für mich öffnen. Habt ihr mich beide verstanden?«
    Sie nickten, die eine verwirrt, die andere - es war so schwer zu sagen. Zornig? Immer noch, ja; sie war schon zornig auf die Welt gekommen. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sich wie Furcht anfühlte oder wie - Kummer …
    »Mama«, flüsterte ihre Tochter. »Mama, tu es besser
nicht. Wenn du schon nicht an dein Kind denken konntest, dann denk an meines.«
    »Ja«, antwortete die alte Frau leise. »Genau das will ich tun.«
    Sie lehnte sich aus dem Bett, an dem warmen jungen Körper der Enkelin vorbei. Die verstaubte Schachtel stand noch immer unter dem Nachtschränkchen; immer noch, nach all den Jahren. Sie zog sie hervor, schob die Hand unter den Deckel. Glattes Holz, kaltes Glas … Sie tastete, bis sie den Mechanismus fand. Ein Geräusch erklang, ein kleines, kratziges Schnarren. Ihre Finger zitterten ganz schwach, als sie den Deckel von der Schachtel hob.
    Die Enkelin beugte sich neugierig vor. Die Tochter atmete ein.
    Ein hölzernes Kästchen, stumpf von Alter und Staub. Figuren aus geschliffenem Glas darauf, mattes Schimmern im blassen Winterlicht. Sie bewegten sich leicht, stockten, ruckten wieder. Setzten langsam zur allerersten Drehung an.
    »Hört«, sagte die alte Frau - oder dachte sie es nur?
    »Hört.«
    Ein erster Ton schwebte über das Bett hin.

An jenem Tag füllte das Lied der Spieluhr den ganzen Dachboden, und Mina hörte den Besuch nicht kommen. Der Wind, der seit der Nacht von der Schlei herwehte, hatte den letzten Winterhauch vom Dach geblasen. Die Maisonne schien hell durch das schmale Giebelfenster; Staub rieselte in glitzernden Fäden von den Balken. Die zirpenden Töne wiegten sich darauf, und die kleine, sehnsüchtige Melodie drang in jede Nische.
    Mina hielt die Spieluhr fest an die Brust gedrückt, während das Lied sie umfing. Bunte Lichtflecken sprangen von den Glasresten auf dem Deckel; die Figuren, die einmal daraufgestanden hatten, waren längst abgebrochen. Nur ein paar Kristallsplitter, immer noch festgeleimt, und etwas wie ein Frauenfuß in einem gläsernen Schuh drehten sich, wenn man die Kurbel aufzog - langsam, gemessen, Runde um Runde. Die Lichtflecken huschten über Minas Gesicht, so leuchtend, dass sie die Augen beinahe ganz schließen musste: Morgenrot, Sommernachtsviolett, Traumblau. Tanzende Damen …
    Damen, die sich in ihren schönsten Kleidern drehten, langsam, gemessen, Runde um Runde, in einem Ballsaal,
der irgendwo hinter den schrägen Wänden lag; hinter den Kommoden, denen Beine fehlten, den Kisten mit ausgemustertem Geschirr ohne Henkel und den geduldig wartenden, leeren Schrankkoffern. Damen, deren Haare hochgesteckt waren mit funkelnden Diademen, wie das, das verbogen um den kopflosen Hals einer Schneiderpuppe lag. Damen, die Tücher aus Perlen und Federn von ihren Schultern wehen ließen, ohne Mottenlöcher, ohne zerrissene Säume, während sie die schönen Köpfe neigten. Nie wurden sie müde, dem immer gleichen Lied zu lauschen, die zarten Füße im immer gleichen Takt zu bewegen. Die Spieluhr spielte, und die Damen tanzten, und das Seidenpapier in den leeren Hutschachteln flüsterte im Luftzug.
    Einzweidrei, einszweidrei, wie die Mädchen unten an der Küchentreppe, wenn im Salon das Grammophon aufgezogen wurde. Mit der
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