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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler
Autoren: Donato Carrisi
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wollte sich auch jetzt nicht
einfach so ermorden lassen. »Warte!«, sagte er. »Das kannst du nicht machen.
Das ist nicht fair, Devok.«
    Der Alte erstarrte. Ungläubiges Erstaunen malte sich auf seinem
Gesicht ab. Es war nicht dieser Satz, der ihm Einhalt gebot, und auch nicht die
Tatsache, dass der andere seinen Namen kannte. Sondern die Stimme, die diese Worte
ausgesprochen hatte.
    Der Verwandlungskünstler hatte mit Marcus’ Stimme geredet.
    Der Alte war verwirrt. »Wer bist du?«, fragte er voller Angst.
    »Was soll das heißen, wer ich bin? Erkennst du mich denn nicht
wieder?« Er sagte es beinahe flehentlich. Denn die einzige und effektivste
Waffe des Verwandlungskünstlers war die Illusion.
    Vor den Augen des Alten vollzog sich etwas Unbegreifliches: Er wurde
Zeuge einer Art Transformation. »Das stimmt nicht. Du bist nicht er!« Obwohl
Devok wusste, dass er recht hatte, hielt ihn etwas zurück. Es war die
Zuneigung, die er für seinen Schüler empfand. Deshalb hatte er nicht die Kraft
abzudrücken.
    »Du warst mein Lehrer, mein Mentor. Alles, was ich weiß, habe ich
von dir. Und jetzt willst du mich umbringen?« Der Verwandlungskünstler redete
weiter auf ihn ein und kam dabei unmerklich näher.
    »Ich kenne dich nicht.«
    »Es gibt einen Ort, an dem das Reich des Lichts auf das der
Finsternis trifft. Dort spielt sich alles ab. Im Reich der Schatten, wo alles
schemenhaft, ununterscheidbar, ungewiss ist. Wir sind die Wächter, die diese
Grenze verteidigen. Aber manchmal mogelt sich jemand an uns vorbei … Dann muss
ich ihn in die Finsternis zurückjagen.«
    Der Alte zitterte, wollte schon aufgeben. Der Verwandlungskünstler
stand jetzt dicht neben ihm, die Waffe in Reichweite. In diesem Moment sah er,
wie der erste Tropfen auf den Teppich fiel. Der andere merkte, dass er Nasenbluten
hatte. Das war das Einzige an ihm, das er nicht ändern konnte. Seine ureigenste
Eigenschaft – den Rest borgte er sich aus. Seine wahre Identität, die unter zig
anderen verborgen lag, bestand in diesem persönlichen Merkmal.
    Die Illusion zerplatzte, und der Alte begriff, dass er getäuscht
worden war. »Verflucht!«
    Der Verwandlungskünstler stürzte sich auf die Hand mit der Pistole
und konnte sie dem Mann gerade noch rechtzeitig entreißen. Der Alte fiel nach
hinten, woraufhin der Verwandlungskünstler ihn mit der Waffe bedrohte.
    Der Alte lag auf dem Teppich und lachte, wischte sich die blutbesudelte
Hand an seinem Hemd ab. Das Gesicht des Verwandlungskünstlers war
blutbeschmiert.
    »Warum lachst du? Hast du keine Angst?«
    »Bevor ich hierherkam, habe ich meine Sünden gebeichtet. Ich bin
frei und bereit zu sterben. Außerdem amüsiert mich die Vorstellung, dass du
glaubst, mich nur töten zu müssen, um deine Probleme zu lösen. Dabei haben sie
gerade erst angefangen.«
    Der Verwandlungskünstler vermutete eine Falle, in die er jedoch
nicht tappen würde. »Vielleicht solltest du jetzt lieber schweigen. Es ist besser,
ohne letzte Worte abzutreten, und außerdem würdiger, findest du nicht auch?
Alle Männer, die ich getötet habe, haben ihren Tod mit geistlosen, banalen Sätzen
entweiht. Sie baten um Mitleid, flehten mich an. Sie konnten das zwar nicht
wissen, aber für mich war das nur die Bestätigung, dass sie mir nichts mehr zu
sagen hatten.«
    Der Alte schüttelte den Kopf. »Armer Irrer! Ein Priester, der besser
ist als ich, macht bereits Jagd auf dich. Er hat deine Begabung: Er kann sich
in jeden beliebigen Menschen verwandeln. Nur dass er kein Verwandlungskünstler
ist und niemanden tötet. Er ist darin geschult, die Identität Verstorbener
anzunehmen. Im Moment ist er ein Interpolbeamter und hat Zugang zu sämtlichen
polizeilichen Ermittlungen. Bald wird er dich aufspüren.«
    »Gut, dann sag mir, wie er heißt.«
    Der Alte lachte immer noch, und zwar lauthals. »Selbst wenn du mich
foltern würdest, würde dir das nichts nutzen. Die Pönitenziare haben keine
Namen. Es gibt sie gar nicht. Das müsstest du doch eigentlich wissen.«
    Während der Verwandlungskünstler noch überlegte, ob der Alte nur
bluffte, nutzte dieser seine Zerstreutheit aus und machte einen Satz nach vorn.
Er packte die Pistole und drückte sie nach unten, wobei er sich als erstaunlich
wendig erwies. Ein erneutes Handgemenge war die Folge. Aber diesmal wollte der
Alte einfach nicht aufgeben.
    Ein Schuss löste sich und ließ den Spiegel zerbersten. Der
Verwandlungskünstler sah, wie sein Spiegelbild in tausend Stücke zerbrach. Es
gelang
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