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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler
Autoren: Donato Carrisi
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alles ab.
Im Reich der Schatten, wo alles schemenhaft, ununterscheidbar, ungewiss ist.«
    Marcus hat es deutlich gesagt, aber Sandra hatte es bisher nicht
verstanden: Nicht die Finsternis ist die wahre Gefahr, sondern jenes
Zwischenreich, in dem das Licht trügt, in dem sich Gut und Böse vermischen und
man sie nicht mehr auseinanderhalten kann.
    Das Böse versteckt sich nicht in der Dunkelheit. Sondern
im Schatten.
    Und dort verdreht es die Tatsachen. Es gibt keine Monster!, ruft
Sandra sich in Erinnerung. Es gibt nur ganz normale Menschen, die furchtbare
Verbrechen begehen. Das Geheimnis besteht darin, keine Angst vor der Dunkelheit
zu haben. Denn im Grunde enthält sie sämtliche Antworten.
    Während sie das dunkle Foto in den Händen hält, beugt sie sich über
die Votivkerzen. Sie beginnt zu pusten, sie auszublasen. Es sind zig Kerzen,
sodass sie eine Weile dafür braucht. Währenddessen wallt Dunkelheit auf, und
alles um sie herum verschwindet.
    Als Sandra alle Flammen gelöscht hat, tritt sie einen Schritt
zurück. Sie sieht nichts mehr, fürchtet sich, sagt sich aber, dass sie nur
warten muss. Und danach wird sie Bescheid wissen. So wie damals als Kind, wenn
sie sich abends beim Zubettgehen vor der Dunkelheit fürchtete. Denn sobald sich
ihre Augen daran gewöhnt hatten, tauchte alles wie durch ein Wunder wieder auf – das Zimmer, ihre Spielsachen, ihre Puppen –, und sie konnte beruhigt
einschlafen. Langsam passen sich Sandras Augen an die veränderten Bedingungen
an. Die Erinnerung an das Licht schwindet, und sie merkt, dass sie wieder etwas
sieht.
    Die sie umgebenden Figuren tauchen wieder auf. Auf dem Altarbild vor
ihr erstrahlt der heilige Raimund von Peñafort. Und auch Christus, der
Weltenrichter, und die beiden Engel sind in ein neues, glänzendes Licht
gehüllt. Auf dem verrußten Wandputz nehmen Formen Gestalt an. Es sind Fresken,
die Szenen der Hingabe und Reue, aber auch der Vergebung zeigen.
    Das Wunder vollzieht sich direkt vor ihren Augen, und Sandra kann es
kaum fassen. Die schlichteste, prunkloseste Kapelle wird wunderschön.
    Ein neues Licht geht von den nackten Wänden aus, und türkisfarbene
Intarsien leuchten bis zur Gewölbedecke empor. Glänzende Fäden ranken sich die
soeben noch schmucklosen Säulen hinauf. Der Gesamteindruck ist ein hellblaues
Schimmern, das an die tiefe Stille des Ozeans erinnert. Es ist nach wie vor
dunkel, aber ein blendendes Dunkel.
    Sandra lächelt. Phosphorpigmente.
    Auch wenn es eine logische Erklärung dafür gibt, war der innere Weg,
den sie beschritten hat, um an diesen Punkt zu gelangen, alles andere als
rational. Er bestand in reiner Hingabe, dem Wissen um die eigenen Grenzen und
einer wohltuenden Kapitulation vor dem Unergründlichen, vor dem, was sich rein
verstandesmäßig nicht erfassen lässt: Glaube.
    Das ist Davids Abschiedsgeschenk, seine Liebesbotschaft an sie.
Akzeptiere meinen Tod, ohne einen Sinn darin zu suchen. Betrachte ihn einfach
als Schicksal. Nur so kannst du wieder glücklich werden.
    Sandra sieht nach oben und bedankt sich. »Hier gibt es kein Archiv.
Das einzige Geheimnis besteht aus dieser überwältigenden Schönheit.«
    Schritte nähern sich. Sandra dreht sich um, und Marcus steht vor
ihr.
    »Die Entdeckung des Phosphors geht auf das siebzehnte Jahrhundert
zurück. Wir haben sie einem Schuster aus Bologna zu verdanken, der einige
Kiesel gesammelt, sie zusammen mit Kohle ins Feuer geworfen und ein merkwürdiges
Phänomen beobachtet hat: Nachdem sie dem Tageslicht ausgesetzt gewesen waren,
gaben sie noch Stunden später Licht an die Dunkelheit ab.« Er macht eine weit
ausholende Geste. »Das, was du hier siehst, wurde mehrere Dekaden später
geschaffen, und zwar von Hand eines anonymen Künstlers, der die Substanz des
Schusters zum Ausmalen der Kapelle benutzt hat. Stell dir das Erstaunen der Menschen
vor, die so etwas noch nie zuvor gesehen hatten! Heute überrascht uns das
Phänomen nicht mehr so wie damals, weil wir es erklären können. Trotzdem: Jeder
muss selbst entscheiden, ob er die x-te Sehenswürdigkeit Roms vor sich hat oder
ein Wunder.«
    »Ich würde es gern für ein Wunder halten!«, sagt Sandra ein wenig
traurig. »Doch die Vernunft überwiegt. Es ist die, die mir sagt, dass es keinen
Gott gibt und dass David nicht im Paradies ist. Doch ich würde mich nur allzu
gern irren!«
    Marcus bleibt ungerührt. »Das kann ich gut verstehen. Als man mich
zum ersten Mal hergeführt hat, hieß es, ich könne hier die Antwort
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