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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler
Autoren: Donato Carrisi
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der
Verwandlungskünstler die Notwendigkeit, Blutstropfen – eine
Art Signatur – zu hinterlassen, sobald er jemandem die Identität raubte?
    »Bitte, rede mit mir.«
    »Bitte, rede mit mir«, wiederholte der andere.
    »Sag irgendwas.«
    »Sag irgendwas.«
    Der Jäger lachte.
    Auch er lachte.
    »Spiel nicht mit mir.«
    »Spiel nicht mit mir.«
    Da verstand er: Er spielte nicht, er übte.
    Der Jäger sah, wie er aufstand und etwas aus der Tasche seines
Overalls zog. Einen länglichen, glänzenden Gegenstand. Erst begriff er nicht,
worum es sich handelte, aber als er auf ihn zukam, sah er die scharfe Klinge.
    Der Verwandlungskünstler legte das Skalpell auf seine Wange und zog
damit langsame Linien, die bald tiefer einschneiden würden. Er spürte ein
gefährliches Kitzeln. Es war angenehm und ließ ihm gleichzeitig das Blut in den
Adern gefrieren.
    Es gibt nur die Hölle, dachte er. Und sie ist hier.
    Der Verwandlungskünstler wollte ihn nicht einfach nur töten: Schon bald würde sich die Beute in einen Jäger verwandeln.
    Aber bevor es so weit war, geschah etwas anderes. Er bekam eine
Antwort. Der andere nahm die Sturmhaube ab, und zum ersten Mal konnte er ihm
richtig ins Gesicht sehen. Noch nie waren sie sich so nah gewesen. Im Grunde
konnte er sagen, dass er es geschafft hatte. Der Jäger hatte sein Ziel
erreicht.
    Denn es lag etwas auf dem Gesicht des Verwandlungskünstlers, das
dieser gar nicht zu bemerken schien.
    Endlich verstand er den Ursprung dessen, was er für eine Signatur gehalten hatte.
    Dabei war sie nur ein Beweis für seine Verletzlichkeit. Der Jäger
begriff, dass er es nicht mit einem Monster, sondern mit einem Menschen zu tun
hatte. Und wie alle Menschen hatte auch der Verwandlungskünstler ein Erkennungsmerkmal,
etwas, das ihn unverwechselbar machte, egal, wie geschickt er darin war,
verschiedene Identitäten anzunehmen.
    Der Jäger würde bald tot sein, aber in diesem Moment war er
erleichtert.
    Sein Feind konnte nach wie vor gefasst werden.

JETZT
    Begräbniswetter hängt über Rom. Man weiß nicht, ob es
Nacht oder Tag ist.
    Sandra steht vor der unscheinbaren Fassade, hinter der sich die
einzige gotische Kirche Roms verbirgt: Santa Maria sopra Minerva empfängt sie
mit kostbarem Marmor, hohen Gewölben und herrlichen Fresken, aber ganz ohne
Besucher.
    Ihre Schritte verhallen im rechten Seitenschiff. Sie geht zum
letzten Altar, zum kleinsten, schmucklosesten.
    Der heilige Raimund von Peñafort erwartet sie bereits, nur dass sie
es die letzten Male nicht gewusst hat. Sie fühlt sich, als würde sie ihren Fall
jetzt Christus dem Weltenrichter zwischen zwei Engeln vortragen.
    Das Seelentribunal.
    Das Fresko ist nach wie vor von Votivkerzen umgeben, die Gläubige
hinterlassen haben und von denen Wachs auf den Boden tropft. Sie sammeln sich
ausgerechnet hier, in der armseligsten Kapelle der ganzen Kirche: eifrige
Flämmchen, die bei jedem Luftzug unisono den Kopf neigen und ihn dann wieder
aufrichten.
    Bei ihren vorherigen Besuchen hatte sich Sandra gefragt, für welche
Sünden sie wohl angezündet wurden. Jetzt weiß sie die Antwort: für die Sünden
aller. Sie holt das letzte Leica-Foto aus ihrer Tasche und sieht es sich an.
Die darauf festgehaltene Dunkelheit birgt einen Glaubensbeweis. Der letzte
Hinweis Davids ist der geheimnisvollste und zugleich beredtste.
    Sie darf die Lösung nicht anderswo suchen: Sie liegt bei ihr selbst.
    In den letzten fünf Monaten hat sie sich gefragt, wo David wohl
jetzt ist und welchen Sinn sein Tod hat. Und weil sie diese Fragen nicht
beantworten konnte, fühlte sie sich hilflos. Sie ist Polizeifotografin, sucht
den Tod im Detail, weil sie davon überzeugt ist, so alles erkären zu können:
    Ich sehe die Dinge durch das Objektiv meiner Kamera. Ich verlasse
mich auf Details, weil sie mir sagen, wie es sich wirklich abgespielt hat. Aber
für die Pönitenziare gibt es noch etwas jenseits der Fakten. Etwas, das genauso
real ist, aber von keiner Kamera festgehalten werden kann. Deshalb muss ich
lernen, mich dem Geheimnis anheimzugeben, und akzeptieren, dass es uns nicht
vergönnt ist, alles zu verstehen.
    Angesichts der großen Fragen des Lebens zermartert sich der
Wissenschaftler den Kopf, während der Gläubige innehält. Und in diesem Moment,
in dieser Kirche, spürt Sandra, dass sie eine Grenze erreicht hat. Nicht
umsonst fallen ihr die Worte des Pönitenziars ein. »Es gibt einen Ort, an dem
das Reich des Lichts auf das der Finsternis trifft. Dort spielt sich
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