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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler
Autoren: Donato Carrisi
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war real.
    Wenn ich es tatsächlich schaffe, werde ich so einiges ändern, dachte
er. Auf einmal merkte er, wie sehr er am Leben hing. Er hatte keine Angst vor
dem Tod, aber davor, an diesem Ort zu sterben – auf eine Art und Weise, die er
sich lieber nicht vorstellen wollte.
    Nein, bitte nicht so, bitte!
    Als er das Fahrzeug erreichte, konnte er es kaum fassen. Er riss die
Tür auf und sah, wie die Wölfe langsamer wurden. Sie hatten begriffen, dass er ihnen
entkommen war, und zogen sich in den Schutz der Dunkelheit zurück. Der Jäger
tastete fieberhaft nach dem Schlüssel, den er im Zündschloss hatte stecken
lassen. Als er ihn fand, fürchtete er, der Wagen könnte nicht anspringen. Doch
er setzte sich in Bewegung. Er lachte ungläubig und lenkte, um zurückzusetzen.
Alles lief tadellos. Er befand sich noch immer im Adrenalinrausch, doch allmählich
machte sich die Erschöpfung bemerkbar. Die Milchsäure fermentierte, und die
Gelenke schmerzten. Wahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass er sich langsam entspannte.
    Ein letzter Blick in den Rückspiegel: seine angstgeweiteten Augen.
Die sich entfernende Geisterstadt. Und der Schatten eines Mannes auf dem
Rücksitz.
    Noch bevor der Jäger einen klaren Gedanken fassen konnte,
durchzuckte ihn ein Schmerz, und um ihn herum wurde alles schwarz.
    Ein Rauschen weckte ihn. Wasser tropfte aus einem Felsen.
Er konnte sich den Ort vorstellen, ohne die Augen zu öffnen. Er wollte nicht
hinschauen, aber am Ende tat er es doch.
    Er lag auf einem Holztisch. Das Licht war schwach und stammte von
drei von der Decke hängenden Glühbirnen. Ihre Glühdrähte zitterten. Er konnte
das Brummen des Generators hören, der sie mit Strom versorgte.
    Er konnte sich nicht rühren, denn er war gefesselt. Aber warum hätte
er sich auch bewegen sollen? Es war okay so.
    War er in einer Höhle? Nein, in einem unterirdischen Raum. Schimmel
bedeckte die Wände. Aber da war noch etwas, ein metallischer Geruch, so als
hätte jemand etwas gelötet. Zink. Und der unverwechselbare Gestank des Todes.
    Mühsam wandte er den Kopf. Er befand sich in einer Krypta. Die Wände
waren von einem gleichmäßigen Mosaik geschmückt. Der Anblick war ebenso schön
wie Unheil verkündend.
    Das Mosaik bestand aus einzelnen Knochen. Aus Oberschenkel-, Ellen-
und Schulterblattknochen. Sie waren mit dem Zink der Särge zusammengelötet
worden und schützten den Ort so vor radioaktiver Verseuchung.
    Etwas anderes hatte der Verwandlungskünstler für die Konstruktion
seines Schlupfwinkels nicht zur Verfügung gehabt. Er war klug: An einem Ort, an
dem jeder Gegenstand radioaktiv verseucht ist, sind das einzig Unverseuchte die
Toten. Er musste sie auf dem Friedhof ausgegraben haben.
    Er erkannte drei im Lauf der Zeit dunkel gewordene Schädel, die ihn
vom Schatten aus beobachteten. Sie gehörten zwei Erwachsenen und einem Kind.
Der echte Dima und seine Eltern!, dachte er.
    Er hörte, wie der Verwandlungskünstler näher kam. Er musste sich
nicht umdrehen. Er wusste Bescheid.
    Er spürte seinen ruhigen, gleichmäßigen Atem. Er legte ihm eine Hand
auf die Stirn und strich seine schweißverklebten Haare in einer fast zärtlichen
Geste zur Seite. Dann ging er um ihn herum, sodass er ihm in die Augen sehen
konnte. Er trug einen Militäroverall und einen zerlöcherten orangefarbenen Rollkragenpulli.
Sein Gesicht wurde von einer Sturmhaube verdeckt, aus der nur ausdruckslose
Augen und ungepflegte Bartstoppeln hervorsahen.
    Auf diesem Teil des Gesichts war keinerlei Gefühlsregung zu
erkennen. Wenn überhaupt, schien er neugierig zu sein. Er legte den Kopf schräg
wie ein Kind, das etwas wissen will. Als er ihn ansah, wusste er, dass es
keinen Ausweg für ihn gab.
    Der Verwandlungskünstler kannte kein Mitleid. Nicht, weil er böse
war. Sondern weil es ihm niemand beigebracht hatte.
    Er hielt das Stoffkaninchen in den Händen, strich ihm gedankenverloren
über den Kopf. Dann entfernte er sich. Er sah ihm nach. In einer Ecke befand
sich ein Lager aus Lumpen und Decken. Er ließ das Kaninchen dort, setzte sich
im Schneidersitz hin und starrte ihn erneut an.
    Er hätte ihm gern so viele Fragen gestellt. Er konnte sich sein
eigenes Schicksal lebhaft ausmalen: Er würde hier nicht lebend rauskommen. Aber
was ihn viel mehr verbitterte, war, dass er keine Antworten auf seine Fragen
hatte. Er hatte so viel Kraft und Energie in diese Jagd investiert … Es war
eine Sache der Ehre.
    Wie vollzog sich die Verwandlung? Warum verspürte
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