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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler
Autoren: Donato Carrisi
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ihm, die Waffe auf seinen Feind zu richten und abzudrücken. Der Alte
erstarrte, sein Gesicht war nur noch eine bestürzte Grimasse. Seine Augen
traten hervor, und sein Mund war weit aufgerissen. Die Kugel hatte sein Herz
durchschlagen. Doch anstatt nach hinten zu fallen, kippte er nach vorn und riss
seinen Mörder mit zu Boden. Dabei löste sich der dritte Schuss. Der
Verwandlungskünstler glaubte, die Kugel wie einen dunklen Schatten auf sich
zufliegen zu sehen, bevor sie in seine Schläfe eindrang.
    Während er auf dem Teppich lag und auf sein Ende wartete,
betrachtete er sich in den tausend Spiegelscherben. Sie zeigten ihm alle seine
Identitäten, alle Gesichter, die er gestohlen hatte. Ganz so, als hätte die
Verletzung an der Schläfe sie aus dem Käfig seines Kopfes befreit.
    Sie sahen ihn an. Nach und nach begann er, sie zu vergessen.
    Und kurz bevor er starb, wusste er nicht mehr, wer er war.

7 Uhr 37
    Der Tote schlug die Augen auf.

Anmerkungen des Autors
    Diesen Roman habe ich zwei ganz besonderen Begegnungen zu
verdanken, die mir unvergesslich geblieben sind.
    Zur ersten kam es in Rom, an einem Nachmittag im Mai. Ich
hatte mich mit einem außergewöhnlichen Priester verabredet, und zwar auf der
Piazza delle Cinque Lune, bei Sonnenuntergang. Ich muss nicht extra betonen,
dass Ort und Zeitpunkt von ihm ausgewählt worden waren. Als ich ihn bat, »bei
Sonnenuntergang« etwas genauer zu definieren, sagte er nur: »Bevor es Abend
wird.« Weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, beschloss ich,
lieber etwas zu früh zu kommen.
    Er erwartete mich bereits.
    In den darauffolgenden zwei Stunden erzählte mir Padre Jonathan von
der Pönitenziarie, vom Archiv der Sünden und von der Aufgabe der Pönitenziare.
Und die ganze Zeit über dachte ich: Wie kann es sein, dass darüber noch nie
jemand geschrieben hat? Unser Spaziergang durch die Gassen Roms endete vor der
Kirche San Luigi dei Francesi: vor Caravaggios Gemälde Das
Martyrium des heiligen Matthäus , vor dem die zukünftigen
Priester-Profiler ihre erste Lektion lernen.
    Die Priester arbeiten häufig mit den Behörden zusammen. In Italien
gibt es seit 1999 die S.a.S., eine Antisekteneinheit, die der Polizei hilft,
sogenannte »Satansdelikte« besser zu verstehen. Nicht, weil es einen Dämon
aufzuspüren gibt, sondern wegen der dämonischen Bedeutung, mit der einige
Kriminelle, insbesondere Mörder, ihre Taten aufladen. Kann man diese Bedeutung
entziffern, hat man ein Motiv für die grausamen Verbrechen. Auf diese Weise
entstehen nützliche Statistiken, die die Ermittlungen unterstützen können.
    Nach unserem ersten Treffen hat mich Padre Jonathan zwei Monate lang eingewiesen, mir den Sinn seines einzigartigen Amtes
erklärt und mich in die Geheimnisse der magischen Orte Roms eingeweiht. Orte,
die wir gemeinsam aufgesucht haben und die in diesem Roman beschrieben sind.
Orte, die mich manchmal sprachlos zurückgelassen haben. Er hat mir zahlreiche
Vorträge gehalten und kannte sich mit Kriminalfällen, Kunst, Architektur und
Geschichte aus. Er wusste sogar über die Entdeckung des Phosphors Bescheid.
    Was Glaubens- und Religionsfragen anbelangt, hat er meine
Ratlosigkeit nachsichtig toleriert und war bereit, sich meiner Kritik offen zu
stellen. Am Ende habe ich gemerkt, dass ich unbewusst einen spirituellen Weg
beschritten habe, der mir geholfen hat, meine Geschichte entsprechend zu
konstruieren.
    In unserer heutigen Gesellschaft wird Spiritualität gern ins
Lächerliche gezogen, als Opium für das ungebildete Volk abgetan oder mit
Esoterik gleichgesetzt. Der Einzelne ist nicht mehr in der Lage, zwischen Gut
und Böse zu unterscheiden, mit der Folge, dass Gott den Fundamentalisten,
Extremisten und Karikaturisten überlassen bleibt. (Fanatische Atheisten
unterscheiden sich nämlich oft erstaunlich wenig von Glaubensfanatikern.)
    Und deshalb haben wir verlernt, unabhängig von ethisch-moralischen
Kategorien oder etwas so Beliebigem wie »Political Correctness« in uns
hineinzuhorchen und dort auf jene grundlegende Dichotomie zu stoßen, die es
erlaubt, jedes menschliche Verhalten einzuordnen und zu bewerten.
    Gut und Böse, Yin und Yang.
    Eines Tages gab mir Padre Jonathan zu verstehen, ich sei jetzt so
weit und könne meine Geschichte erzählen. Er wünschte mir, dass ich »immer im
Licht« bleiben möge, und versprach mir ein Wiedersehen. Noch ist es nicht dazu
gekommen. Ich habe ihn vergeblich gesucht und hoffe, dass er sich nach
Erscheinen dieses
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