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Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen

Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen

Titel: Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen
Autoren: Karl May
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so entstandene Lücke lugend, konnten wir das Innere überblicken. Die Nezaneh war allein, sie kniete mit gefalteten Händen und emporgerichtetem Gesicht an ihrem Lager; ihre Lippen bewegten sich. Ich schob die Thüre auf und trat ein; der Hadschi folgte mir. Sie hörte das Geräusch, blickte zur Seite, sah uns und fuhr mit einem Schrei in die Höhe.
    »Du betest?« fragte ich; »zu meinem Gotte der Liebe oder zu Eurem Allah, der nur den Moslem duldet?«
    »Zu Deinem Gotte,« antwortete sie, noch immer bewegungslos vor Staunen.
    »So hast Du Wort gehalten; ich danke Dir! Glaubst Du, daß er Dein Gebet erhören wird?«
    »Ich habe es geglaubt, weil er Euch aus unserer Hand befreite; so konnte er auch meine Söhne retten. Aber Ihr kommt ja wieder! Warum?«
    »Wir wollten Dir nur beweisen, daß die Hilfe oft dann am nächsten ist, wenn man sie nicht mehr erwartet. Wir haben uns entfernt, nicht um zu fliehen, sondern um des Lösegeldes willen, welches Ihr verlangt.«
    »Ich – – ich – – – ich begreife Dich nicht!« stotterte sie; dann aber eilte sie an uns vorüber zur Thüre, trat hinaus und ließ einen schrillen Schrei erschallen, welcher das ganze Lager in Alarm brachte. Die Ihlauts kamen herbei; sie sammelten sich, alt und jung, groß und klein, vor der Hütte an und hörten mit Erstaunen, daß wir freiwillig zurückgekommen seien. Einige durften herein, unter ihnen der Anführer, den ich niedergeschlagen hatte. Kaum sah er mich, so sprang er auf mich los, um mich zu packen. Ich nahm ihn bei den Armen fest und sagte:
    »Streng’ Dich nicht an! Wir thun freiwillig, was Du erzwingen willst. Hier legen wir unsere Sachen wieder her, wo wir sie weggenommen haben. Bindet uns; wir wollen wieder Eure Gefangenen sein, bis das Lösegeld gekommen ist!«
    Ich breitete den alten Teppich aus, auf welchen wir die Gewehre und alles andere legten; dann wurden wir gefesselt. Das geschah in einer Weise, als ob die Idiz nicht wüßten, ob sie wachten oder träumten. So etwas war ihnen nicht nur noch niemals vorgekommen, sondern sie hätten es, wenn es ihnen erzählt worden wäre, für eine Lüge, für unmöglich gehalten. Großen, wenn auch heimlichen Spaß machte mir dabei das Gesicht meines Halef. Wie gern wäre er herausgeplatzt, wenn er sich nicht vor meiner Mißbilligung gefürchtet hätte! Er sah aus, als ob er explodieren wolle! Die Nezaneh hatte sich auf ihr Lager gesetzt. Da saß sie nun mit ineinander verschlungenen Händen und sah zu, was vor ihren Augen geschah und doch kaum glaublich war. Als wir wieder gebunden worden waren, fragte sie mich, ihren Augen noch nicht recht trauend:
    »Effendi, würde jeder Christ sich so verhalten wie Du?«
    »Nein, nicht jeder,« antwortete ich; »denn es hat nicht jeder das Glück, der Lehrer einer solchen Schülerin zu sein, wie Du bist.«
    »Wie meinst Du das?«
    »Das wirst Du erfahren, wenn meine und auch Deine Zeit gekommen ist. Doch, wir können nicht hier bei Dir bleiben; schafft uns also wieder dorthin, wo wir bewacht worden sind!«
    Man erfüllte diesen Wunsch sofort. Draußen standen trotz des Regens die Menschen dicht gedrängt. Unser Weg nach der bekannten Hütte war als eine Art von Triumphzug zu betrachten. Am Ziele angekommen, wurden wir genau wieder so angebunden, wie es am ersten Abend geschehen war; auch ein Wächter setzte sich zu uns. Nun lagen wir lauschend still, bis sich einige laute Rufe hören ließen, denen andere und wieder andere folgten, die sich schließlich in ein allgemeines Frohlocken verwandelten. Dann war es wieder still, worauf wir Schritte hörten, die sich eilig näherten. Die Thüre wurde aufgerissen, und die Nezaneh trat ein, gefolgt von ihren Söhnen, welche uns augenblicklich die Fesseln abnahmen. Die Frau stand, vor freudiger Aufregung rot im Gesicht, schnell atmend und mit leuchtenden Augen vor uns und rief: »Effendi, jetzt hast Du bewiesen, daß Du ein Christ bist, ein wahrer, ein echter Christ! Ich glaube an Dich; ich glaube nun auch an Euern Gott der Liebe und der Barmherzigkeit, der meine Kinder durch Dich vom Tode errettet hat! Wir waren Eure Feinde, und doch hast Du sie befreit und mir zurückgebracht. Ja, es ist wahr, was ich Dir nicht glauben wollte und nicht glauben konnte: Du liebst Deine Feinde ebenso wie Deine Freunde. Das ist eine größere, eine heiligere Liebe als jede andere Liebe; die kommt nicht aus der Menschenbrust, sondern direkt von Gott herab; sie ist keine irdische, sondern eine himmlische Liebe; und nun kenne
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