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Der Schwur der Venezianerin

Der Schwur der Venezianerin

Titel: Der Schwur der Venezianerin
Autoren: Gunter Tschauder
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Gritti, ist der Bruder deiner Erzieherin. Deine Tante ist Witwe, deswegen ist sie wieder in das Haus ihres Vaters zurückgekehrt.“
    Auf dem kleinen Kanal trällerte ein übermütiger Gondoliere seine Canzone von Liebesglück und Liebesleid. Er fuhr ohne Fracht, ohne Personen. Als er auf der Höhe der beiden Damen war, breitete er seine Arme aus, fiel in seiner schmalen Gondel auf die Knie. Dann schmachtete er mit herzerfüllter Stimme: „Welch glückliches Geschick, Signora, führt mich in die Nähe von solcher Schönheit und Anmut. Steigt in meine Gondel und ich geleite Euch bis an das Ende der Welt.“
    Pellegrina verbeugte sich leicht und musste doch lachen.
    „Das, mein Kind, ist Venedig. Voller Liebesdurst, voller Anbetung, voller Sehnsucht.“
    Der Gondoliere war längst vorbeigerauscht, entschwand ihren Blicken.
    „In Venedig lebst du inmitten der Welt. Ein kleines Volk, das sich geschickt die ganze Erde unterworfen hat, wenn nicht durch Macht und gewaltsame Kriege, dann durch listigen Handel und am ehesten noch durch beides. Venedig kriecht nicht wie Florenz dem Papst zu Kreuze. Im Gegenteil, der Papst sucht die Freundschaft Venedigs. Diese Welt wirst du bei Signora Gritti kennen und nutzen lernen. Du wirst die alten und die neuen Schriften studieren. Du wirst vor allem die Berührung mit der wirklichen, lebendigen Welt haben. Lass dich von deinem Weg nicht abhalten.“
    Noch eine Weile waren sie in der lauen Nachmittagsluft entlang des kleinen Kanals gelaufen.
    „Um deine Familie zu verstehen, musst du sie kennen.“
    Bianca schaute erstaunt auf ihre Mutter.
    „Aber ich kenne sie doch.“
    „Du solltest mehr über sie wissen. Da gibt es ein ehernes Gesetz, das ist der Zwang der Sippe, der alle ihre Entscheidungen beeinflusst. Studiere die Dokumente, finde selbst heraus, was geschehen ist und warum es geschehen ist. Bilde dir dein eigenes Urteil. Halte deinen Verstand wach.“
    Bianca dachte an das gerade begonnene Tagebuch und war gespannt darauf, wie es weiterging.
    Entlang des Rio del Ponte und des Rio del Meloni, zwei kleinen Seitenkanälen, waren sie auf das Ufer des Canal Grande gestoßen. Zu ihrer Linken, nur wenige Hundert Bracchien, wie das Entfernungsmaß in Armlängen hieß, entfernt, leuchtete der Ponte di Rialto im warmen Licht der Nachmittagssonne.
    „Schau Bianca, so alt wie diese Brücke ist deine Familie Cappello, eher noch älter.“
    „Mutter ihr habt mich neugierig gemacht. Was wisst ihr von meiner Familie?“
    „Das alles wirst du in den Dokumenten in der Bibliothek finden. Einiges habe ich damals studiert, als ich mit deinem Vater verheiratet wurde.“
    „Habt Ihr Vater geliebt, als Ihr ihn geheiratet habt?“
    Pellegrina schaute ihre Tochter mit ernstem Blick an.
    „Ich habe ihn erst zur Hochzeit kennengelernt. Ich habe erst später gelernt, ihn zu achten.“
    „Ihn zu achten, auch ihn zu lieben“?, fragte Bianca hartnäckig.
    „Dein Vater ist ein gewiefter Cappello.“
    „Was bedeutet das?“
    „Du wirst es besser verstehen, wenn du die Familiengeschichte studierst. Dein Vater hat immer das große Ziel der Familie im Sinn gehabt. Das Vermögen und den Einfluss zu erhalten und zu vermehren.“
    „Habt Ihr ihn geliebt und er Euch?“
    „Das Zweite, was ein Mann aus einer großen Familie im Sinn hat, ist sein persönliches Vergnügen.“
    „Was heißt das?“
    „Mein Kind, ich erzähle dir das nicht, um mich zu beschweren. Ich will dich auf ein glückliches Leben ohne mich vorbereiten.“
    „Dann wäre es mir lieber, es wäre nicht nötig, mir das zu erzählen. Doch, so“, sie schluckte ihre aufkommende Traurigkeit hinunter, „erzählt weiter.“
    „Dein Vater ist ein viel gereister Mann. Er erlebte viele Abenteuer. Auch mit Frauen, ich denke mit vielen Frauen.“
    Das Mädchen schaute seine Mutter an, es schien als hätte es viele unbeantwortete Fragen auf den Lippen.
    Sie wanderten am Ufer des Canal Grande entlang, auf die hölzerne Brücke zu. Die warme Nachmittagssonne auf ihrem Rücken wischte ab und zu die Schmerzen Pellegrinas hinweg. Die Worte mit ihrer Tochter hinterließen eine Leichtigkeit bei ihr wie selten in den letzten Wochen und Monaten. Sie sprach mit entlastetem Herzen über die ehrbare Familie. Sie verspürte sogar das Bedürfnis, ihrer Tochter die Regeln von Aufstieg und Reichtum mit auf den Weg zu geben.
    „Falsch angewendet, meine Tochter, lassen dich Reichtum und Einfluss nur in eine Richtung schauen. Nutze die Regeln der Macht. Mit ihnen
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