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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher
Autoren: Diccon Bewes
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imposante schroffe Gipfel,
umgeben von üppigen grünen Almen, oder im Winter ein weißes Wunderland –, bevor
die Bahn in die Vorderrheinschlucht hinabfährt. Erstaunlich, dass zwei der
größten Flüsse Europas ihre Quellen so nah beieinander haben: der Rhein, der in
die Nordsee mündet; und die Rhône, die erst nach Westen, dann nach Süden in
Richtung Mittelmeer fließt. Nicht zu vergessen der Inn, der jenseits eines
weiteren Bergkamms entspringt, um die Reise nach Osten über die Donau bis zum
Schwarzen Meer anzutreten. Hier befindet sich im Herzen Europas also eine
Dreifachwasserscheide. Mit den rund 1500 Seen, den größten Wasserfällen Europas
und einigen Gletschern birgt die Schweiz sechs Prozent des Süßwassers des
Kontinents. Kein Wunder, dass die Hälfte des Strombedarfs des Landes mittels
Wasserkraft gedeckt wird.
    Erst auf dem letzten Abschnitt dieser unglaublichen
Bahnfahrt sticht dem Reisenden die Ingenieurkunst der Streckenbauer ins Auge.
Um den Aufstieg von Chur ins glamouröse St. Moritz zu schaffen, muss der Zug
einige Runden drehen und durch gewundene, in den Fels gesprengte Tunnel fahren.
Schluchten überquert er auf gewaltigen, von Pfeilern und Bögen getragenen
Viadukten und scheinbar frei schwebenden Brücken. Das reicht, um beim Blick in
das schäumende Wildwasser tief unten schwitzige Hände zu bekommen.
    Der Glacier Express zeigt, dass Berge für die
Schweizer eher eine Herausforderung als eine Barriere darstellen; sie sind da,
um untertunnelt und durch Brücken verbunden zu werden. Ebenso sind sie ein
Spielplatz, wo man hinaufwandern und auf Skiern hinunterfahren kann, und ein
Bollwerk gegen die Außenwelt. Eigentlich sind die Berge für die Eidgenossen so
etwas wie ein Meer, die Seele des Landes und der Grund, warum es ist, wie es ist,
schön und einladend und zugleich schroff und abweisend. Und wie das Meer bei
seinen Inseln beeinflussen die Berge das Wetter. Der große Unterschied ist,
dass die Schweizer zwar ihre Berge lieben, sich aber nicht groß um das Wetter
scheren.



Der Wind weht, wohin er will
    Fragen Sie einen Schweizer nach dem Wetter und … Nein,
lassen Sie es lieber bleiben. Das Wetter ist kein Thema, über das die
Eidgenossen so gern reden wie andere Völker, zum Beispiel die Briten. Das liegt
teilweise an der Abneigung des Schweizers gegen Small Talk, aber auch daran,
dass er keinen Sinn in dem Gespräch sieht. Hier ist ein typisch
schweizerisch-britischer Plausch über das Wetter:
    Brite (kommt von draußen rein): »Brrr, ist das heute
kalt draußen.«
    Schweizer: »Es ist Winter.«
    Für den Briten könnte ein solcher Auftakt einen
kleinen Meinungsaustausch über das Wetter einleiten, sei es, um das Eis zu
brechen, oder einfach, um ins Gespräch zu kommen; der Schweizer aber sieht
darin nur eine Tatsachenfeststellung, und zwar keine besonders intelligente: Es
ist Winter, also ist es kalt, und damit ist das Thema erschöpft. Auch wenn man
die letzten drei Wochen noch im T -Shirt herumlaufen
konnte oder die Wettervorhersage fürs Wochenende 30 Zentimeter Schnee
prophezeit hat oder es nicht annähernd so kalt ist wie letztes Jahr (jede
dieser Bemerkungen könnte ganz selbstverständlich in einem britischen Small
Talk fallen). Dass die Schweizer immer direkt sagen, was Sache ist, könnte den
Eindruck vermitteln, sie seien unhöflich oder nicht an ihrem Gesprächspartner
interessiert, obwohl beides – bei den meisten jedenfalls – nicht stimmt. Sie
sind es nur nicht gewohnt, dass andere über Belanglosigkeiten reden oder ihr
Privatleben ausbreiten möchten, schon gar nicht vor Fremden. Für den Schweizer
und die Schweizerin ist es angenehmer, neben jemandem zu stehen und schweigend
den Regen zu beobachten, als darüber zu sprechen. Die Ironie dabei ist, dass
das Schweizer Wetter durchaus der Rede wert ist.
    Im Schatten der höchsten Berge Europas zu leben heißt,
dass das Wetter einerseits bemerkenswert beständig, andererseits extrem
wechselhaft sein kann. Hoch- oder Tiefdruckgebiete können sich tagelang über
der Schweiz halten und ihre Bewohner grillen oder tiefkühlen. Dann aber kommt
es zu einem Wetterumschwung, und die Temperaturen ändern sich binnen Stunden um
20
Grad. Umgeben von Bergen und ohne Meer, das im Sommer für Abkühlung und im
Winter für Wärme sorgt, schlägt das Wetter hier in beide Extreme
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